Donnerstag, 21. Januar 2016
Das digitale Blütenland

[Bild: Apfelkoppel - Joshua - ]

Um es vorwegzunehmen, das digitale Blütenland besteht aus Nullen und Einsen, die unter Strom geraten sind, aus einer aufgeladenen und vibrierenden Kodierung, die in einem Dunkel leuchtet, dabei jedoch Anderes als sich selber aufscheinen lassen kann. Dieses Andere, literarisch wäre es üblich, eine Bedeutungsschwangerschaft vorzutäuschen, eine Scheinschwangerschaft, beträfe zunächst nur Bildpunkte auf einem Monitor.
Diese Sichtweise reicht jedoch nicht tief genug. Um es möglichst kompliziert zu machen: Die quantenphysikalischen Unwägbarkeiten, die Fluktuationen von Teilchen zu Wellen und von Wellen zu Teilchen zulassen, sind kaum mit tierischen Sinnen erfassbar, allenfalls durch Messinstrumente, nur das klobige Gedöns, ob Bildpunkte eines Monitors oder auf dem Markt gekaufte Äpfel. Was das jedoch ist, das Klobzeug, bliebe gleichfalls unsicher.

Vielleicht wären statistische Wahrscheinlichkeiten auszubilden, allerdings nicht über einer Grundgesamtheit von Gedöns, sondern über Wahrnehmungen. Ist diesen zu trauen? Wie hoch wäre z.B. die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen einen Apfel als Apfel wahrnehmen? Bereits die Frage hat besondere Tücken, denn offenbar wird, während ich sie stelle, von mir vorausgesetzt, was ein Apfel ist und was nicht. Vielleicht gibt es gar keine Äpfel? - Die sonderliche Anhäufung der Buchstaben ‚wahr‘ ist lediglich historisch bedingt, mythografisch. Falls man einen sprachlichen Bezug in Erwägung ziehen würde, ließe sich leicht auf jene Staben verzichten, doch verstehen würde mich wohl kaum jemand.

Eventuell, um der Frage auszuweichen, ob es überhaupt etwas gibt, beruhen hohe Wahrscheinlichkeiten lediglich auf einem besonderen Effekt: den Resultaten eines Schulterklopfens, auf einer spezifischen Popularität unter Leuten, die ein bedingtes Klopfen befürworten - als wäre zu fragen, ob da etwas oder jemand ist?
Tatsächlich wäre von uns gar nicht beantwortbar, ob es Äpfel gibt und wie sie aussehen, riechen. Auch nicht von einem bäuerlichen Erzeuger, der so etwas wie Äpfel anbietet. Es ist längst bekannt, dass unsere Wahrnehmungsorgane äußerst selektiv vorgehen, wie Filter, und sich zudem leicht trügen lassen. Die Verarbeitung übernimmt ein spezielles Organ, das Gehirn, bis hin zu einer Aufbereitung und Projektion, die uns unter Umständen inneren Film und Äußeres verwechseln lässt. Betont sei freilich, etwas war da. Was, bleibt aufgrund der Selektion jedoch unbekannt, von der sogar Beobachter betroffen wären. Wir haben ziemlich scheele Blicke auf - auf die Welt?
Das digitale Blütenland ist nicht mehr als eine Nachahmung der Projektion, die uns das Gehirn leistet, in der alles und nichts simuliert wird, bis auf das Packaging, der nach einem ausgiebigen Gebrauch eventuell gekrümmten oder gar verbeulten Dose, aus deren Fenster es famos leuchten kann.

Klarheit bringt die Nachahmung jedoch keineswegs! Nicht nur ist unsicher, ob es Bildpunkte und Äpfel gibt, vielleicht taugt auch die Sprache nichts, mit der ich es unternahm, den relevanten Sachverhalt zu beschreiben? Es ließe sich im digitalen Blütenland nicht nur nichts simulieren, auch nichts erläutern, nicht einmal als Voraussetzung für eine Simulation. Nicht einmal nichts wäre möglich, sinnlich als auch sprachlich. Und jetzt?
Eine weitere Frage: Wer triebe einen solchen Schabernak? Eventuell Alienkinder? Spielfiguren bemerken selten, dass sie nur Bestandteil eines Adventure sind. Und können ähnlich auf die Erfahrung reagieren, falls ihnen plötzlich nichts bleibt, das nicht bodenlos ist, nicht einmal nichts. Sind wir Gestalten in einem Alien-Game, in dem irgendwann und immer wieder das Licht ausgeht?

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Um auch noch einem möglichen Schluss auszuweichen, der durchaus plausibel wäre, kann es überhaupt ein digitales Blütenland aus Menschenhand geben?
Auch Spielfiguren, räumte man ihnen einige Freiheitsgrade ein, wäre zuzutrauen, ein digitales Blütenland zu erschaffen, freilich nach ihrem Bilde, so eingeschränkt und dubios es sein mag. Es würde, vielleicht ist dies für manche erschreckend, gar keinen Unterschied ausmachen, ob wir bloß Figuren aus Alienhand wären oder nicht.
Eine von uns aufgezeichnete Geschichte des Blütenlands, die wir inzwischen digital bewahren würden, begänne mit dem erstarken von Königshäusern, den angelegten Archiven, vielleicht für eine historische Ewigkeit, also eine abzählbare Zeit, in der immer mal wieder das Licht ausginge, nicht nur durch Alienhand, auch z.B. innerhalb eines dreißigjährigen Krieges.
Ein solches Gemetzel hätte tatkräftig zu beweisen, dass wir etwas Großartiges, Fantastisches wären, etwas völlig anderes als wir selber. Und sobald das Licht ausginge, in was für einem Völkersturm der Menschenfiguren auch immer, würde für diese erkennbar nichts geschehen.

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[Text und Bild wurden für "Die Novelle" (#6 2016) eingereicht]

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