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Freitag, 25. Juli 2014
Siechenhaus (Teil I)
mark ammern, 10:13h
I
Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?
Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.
Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ich sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?
Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?
II
Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!
Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.
Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!
Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahren des 2o. Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare - ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten -, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.
Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!
Mit Siechenhaus ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?
III
Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:
Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.
Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?
Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.
Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ich sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?
Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?
II
Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!
Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.
Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!
Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahren des 2o. Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare - ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten -, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.
Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!
Mit Siechenhaus ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?
III
Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:
Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.
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Mittwoch, 19. Februar 2014
Das Buch "Analytische Belletristik"
mark ammern, 16:32h
Ende Februar erscheint der Band, der von mir herausgegeben wird, mit Beiträgen von Kathrina Talmi , Reinhard Matern und mir.
Der Verlag schreibt:
"Die Texte vollziehen eine belletristische als auch analytische Auseinandersetzung in Form von Essays und Gesprächen. Im Zentrum stehen Fragen nach künstlerischer Autonomie und Angemessenheit, Fragen nach einer neuen Ästhetik.
Diese Ausrichtung ist nicht nur belletristisch interessant, sondern auch mit Blick auf einen Markt gerichtet, der zunehmend gleichartige, zum Verwechseln ähnliche Bücher produziert, die sich lediglich preislich differenzieren ließen."
Ich wünsche viel Vergnügen!
Der Verlag schreibt:
"Die Texte vollziehen eine belletristische als auch analytische Auseinandersetzung in Form von Essays und Gesprächen. Im Zentrum stehen Fragen nach künstlerischer Autonomie und Angemessenheit, Fragen nach einer neuen Ästhetik.
Diese Ausrichtung ist nicht nur belletristisch interessant, sondern auch mit Blick auf einen Markt gerichtet, der zunehmend gleichartige, zum Verwechseln ähnliche Bücher produziert, die sich lediglich preislich differenzieren ließen."
Ich wünsche viel Vergnügen!
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Freitag, 7. Februar 2014
Autonomie und Angemessenheit
mark ammern, 09:55h
[Vorschau: "Analytische Belletristik", hg. v. Mark Ammern, Autorenverlag Matern]
I
Worte ‚Autononie‘ haben über Jahrhunderte hinweg zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, auch und gerade im Kontext von Worten ‚Kunst‘ oder ‚Künsten‘. Diese Steitigkeiten hängen mit Überfrachtungen zusammen, sowohl im Hinblick auf die Sache als auch emotional.
Zunächst sei betont, dass ‚künstlerische Autonomie‘ in Frage steht, eine von Künstlern in ihrer schriftstellerischen Arbeit. Doch ‚sich selber (auto) ein Gesetz (nomos) bzw. eine Regel (zu) geben‘, um eine Übertragung des altgriechischen «αὐτονομία» anzubieten, weist im vorliegenden Kontext auf eine Relation zu anderen Menschen innerhalb einer Gesellschaft hin. Bestünde diese nicht, wäre eine Betonung von Autonomie nicht erforderlich, es bliebe gar nichts anderes übrig.
Künstlerische Aktivitäten finden in Gesellschaften statt, nicht außerhalb. Es wäre unangebracht, Kunst und Gesellschaft wie zwei imaginäre Gegner gegenüberzustellen, die ein Scheingefecht austragen. Ein Potential für Konflikte ist mit diesem Hinweis aber nicht ausgeräumt: Wie belletristisch zu verfahren sei, lässt sich jemand, der autonom arbeiten möchte, kaum vorschreiben. Dies kann bei der sogenannten Rechtschreibung beginnen, betrifft die Worte und Abschnitte, den Aufbau seiner Texte, als auch die einbezogenen bzw. erfundenen Lebewesen, Gegenstände oder Sachverhalte. Entscheidend ist die Wahl des Schriftstellers bzw. Autors, nicht ein germanistisches oder berufliches, von wem auch immer veranschlagtes Reglement. Mit der autonomen Arbeit können sogar Kriterien übergangen werden, die gesellschaftlichen Gruppen, denen ein offener Zugang fehlt, wie an der Hand geführt erlauben, eine Qualität zu beurteilen. Autonomie stellt systematische Verstöße frei, die unter Künstlern nicht einmal als Widersetzungen empfunden werden müssen, um einem Einerlei zu entkommen, das mit gesellschaftlich verbürgten Qualitätskriterien rasch entsteht. Oder um es provokanter zu formulieren: im Rahmen künstlerischer Autonomie ist es egal, ob ein Text wie dieser, der freilich relativ harmlos ist, bürgerlichen Gesellschaftsmitgliedern gefällt. Aus künstlerischer Sicht ist dieser Kreis, wie manch anderer auch, schlicht belanglos! Dies ist das Moment, in dem Emotionen leicht emporschnellen.
Doch beanspruchbare Autonomie ist historisch relativ: Goethes Figur „Prometheus“ (vgl. Trunz, E., Hg., 1982) wird nicht die Möglichkeit eingeräumt, aus dem Nichts zu schaffen. Eine mythische Figur mit gleichem Schriftzug war geläufig, das griechische Altertum wurde zu jener Zeit gefeiert, Homer und Pindar waren neu entdeckt, Homer sogar zu einem personifzierten Genie erhoben, bereits Klopstock hatte freie Rhythmen dichterisch eingebracht; obgleich es zeitbezogene gesellschaftliche Bedingungen gab, die eine Produktion erleichterten, zeichnet das Gedicht einen individuellen dichterischen Zugang aus.
‚Autonomie‘ ist keine Erlösungsvokabel, sondern weist auf viele konkrete schriftstellerische Hindernisse, die sich macher Kollege gerne vom Leib hält: aus einem Wust an Möglichkeiten, sogar logisch unmögliche inbegriffen, auszuwählen, neu zusammenzufügen, zu differenzieren … um nicht, wie es umgangsprachlich üblich ist, dem verbreiteten gesellschaftlichen Trott zu folgen oder kunsthandwerklich in alte Formen zu flüchten, so hübsch und adrett man sie auch finden mag. Eine relevante Erlösung wäre, auf Autonomie zu verzichten, Standards zu folgen oder schlicht eine hypothetische oder bestehende Nachfrage zu befriedigen.
II
Es wäre aussichtslos, Worte ‚Kunst‘ und ‚Künstler‘ allgemeinverbindlich definieren zu wollen. Nicht nur ist die Umgangsprache äußerst reichhaltig an Worten ‚Kunst‘, weist viele unterscheidbare Bezügsumfänge auf, die Ansicht, mit einer simplen Definition gelänge etwas Relevantes, würde die historischen und gruppenspezifischen Ausprägungen außer Acht lassen. Besonders seit der umfassenden Universitäts- und Studienreform hat sich eine Definitionsgläubigkeit breit gemacht, die der wirtschaftlich motivierten Verschulung geschuldet ist. Um dieser Entwicklung zu entgehen, hat Kathrina Talmi angeboten, Philosophie den Universitäten und der staatlichen Kontrolle zu entziehen, sie als eine ‚Kunst‘ zu deklarieren, ohne auf die speziellen Arbeitsweisen zu verzichten (vgl. Talmi, K., 2014, S.93). Eine autonome Haltung ist auch in der Philosophie unerlässlich, um diese weiterentwickeln zu können. Eventuell würde dem Literaturbetrieb anzuraten sein, von den universitär eingeführten Kursen des kreativen und literarischen Schreibens Abstand zu halten.
In der Einleitung hatte ich mit Bedacht eine Differenzierung in Kunst und Umgang vorgenommen, um Worte ‚Kunst‘ bzw. ‚Künste‘ sprachlich erst zu ermögliche. Ohne Differenzierung könnte von Künsten, auch von Produkten Literatur, keine Rede sein. Die Tätigkeiten und Erzeugnisse gingen im Alltag unter, wären kaum einer gesonderten Beachtung wert, vergleichbar mit einem Nachbarschaftsgespräch, einem Familienstreit oder einer von Murren begleiteten Sicherheitskontrolle auf einem Flugplatz. Bieten fragliche Texte jedoch mehr als es im Umgang situativ möglich wäre, ist eine separate Bezeichnung angebracht. Dies ist nicht neu, geschieht seit dem Altertum, sei dennoch erläuternd angeführt.
Nach einer ersten Befreiung von religiöser Bevormundung in der Renaissance, bereitete die Aufklärung den Künstlern eine Autonomie, indem nicht nur Talent und angestrebte Natürlichkeit in den Vordergrund rückten, sondern auch eine Selbstbestimmung in der künstlerischen Tätigkeit. Diese sachliche Schlichtheit, die relativ vielen Menschen geläufig sein wird, jedoch nicht allen etwas sagt, wäre durch gespuckte Vokabeln wie ‚Selbstverwirklichung‘ oder ‚Narzissmus‘ zu verunglimpfen? Wäre es hingegen befürwortbar, gesellschaftlich als Anstalt aufzutreten, ob moralisch oder sozialistisch? Altgediente Oberlehrer wären entzückt! Auch Lehrkörper haben sich entscheiden, eine Wahl treffen müssen, sich mit dieser auf ein Publikum ausgerichtet - und auf eine Aufgabe, die fortan den Freiraum einschränkt, dem Leben einen Sinn gibt, in dem man anderen erläutert, worin ihr Sinn besteht. Man rückte pädagogisch in scholastische Tradition.
Bei jungen Menschen kann die Frage aufkommen, welchen Sinn man dem eigenen Leben geben möchte. Meiner Beobachtung nach wird ‚Sinn‘ als Aufgabe gefasst, als Aufgabe in der jeweiligen Gesellschaft. Dieses konkrete Bedürfnis, das mit der Aussicht, die Familie verlassen zu müssen oder zu wollen, drängender wird, ist von ihnen nicht leicht zu beantworten. Und die quälende Freiheit reduziert sich in der Frage leicht auf die Wahl. Ob eine Tätigkeit dazugehört, die autonomes Handeln einräumen könnte, wäre nur ein besonders spezieller Fall. Und ist eine Wahl getroffen, bestimmt sie zumeist den Rest des Lebens … Es muss nicht wundern, dass ‚Autonomie‘ für viele Menschen ein Fremdwort ist, auch in derzeitigen westlichen Gesellschaften.
Zur Unmöglichkeit von Kunstdefinitionen haben vor allem Künstler beigetragen: Provokationen begannen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und sind noch in neuerer Zeit spürbar. Die Ausrichtungen waren vielfältig, ob Dada, PopArt oder Aktionskunst. Gemeinsam war ihnen, eine bildungsbürgerliche Debatte zu überschreiten, in der Bedingungen festgelegt worden waren, die ein Werk zu erfüllen hätte. Das künstlerische Vorgehen betonte die Autonomie, die auch dazu führen konnte, wie im Fall Warhol, Kunst als Business zu betreiben, weil der Kunstmarkt und dessen Akteure exaltiert reagierten. - Doch sobald aus Provokation eine Mode wird, verliert sich die Spitze. Als in jüngerer Zeit, während eines Festivals Neuer Musik, auf der Bühne eine Kuh präsentiert wurde, blieb kaum mehr als ein müder Spaß und Mitleid mit dem Tier. Ohne historische Vorgehensweisen einzubeziehen, wird man keine Kunstdebatten führen können.
III
Bislang ist von mir ‚Autonomie‘ ausschließlich auf künstlerische Arbeit bezogen worden, nicht auf die Produkte oder gar auf Künste als Sammelbegriff unterscheidbarer Disziplinen, ihrer Produkte und Märkte. Sprachlich wäre eine fragliche Bezeichnung von Kunstwerken auch gar nicht möglich: Nicht die Kunstwerke bilden Regeln oder improvisierte Prozesse aus, sondern die Künstler. An den Resultaten lassen sich zwar Grade ablesen, doch auch diese hätten sich primär auf die eingebrachte Arbeit zu beziehen, die man gar nicht verfolgt hat. Erst ein Vergleich mit Resultaten anderer Künstler lässt eine individuelle Handschrift erkennen.
Für eine Ästhetik würde die Frage nach einer solchen Handschrift jedoch nicht ausreichen. Die Produkte umfassen mehr. Kathrina Talmi hat in „Jenseits des Absoluten“ vorgeschlagen - enthalten im vorliegenden Band -, nach Angemessenheit zu fragen, in Relation zu inneren als auch äußeren Parametern, die einen Vergleich gestatten. Mit diesem Kriterium geht es unumwunden um die Sache, nicht um ein Gefühl. Es mag sein, dass auch Gefühle entstehen, eventuell sogar aufwallen, doch sie taugen aus empirischer Sicht für eine Beurteilung nicht.
Sie geht den rationalen Laborbedingungen, die Kant experimentell geschaffen hatte, leichthin aus dem Weg. Dies ist nachvollziehbar, berücksichtigt man das emotionale Sprachverhalten von Menschen: Kants Differenzierung in Angenehmes, Schönes und Gutes kann nicht einfach vorausgesetzt werden, ebenso nicht eine Aussonderung von möglichen Begehrlichkeiten und Interessen, bis ein Schönes rein erstrahlt. Probanden hätten Störfaktoren auszublenden, die auf Informationen und Einstellungen beruhen, bis ein hypostasiertes Wohlgefallen übrig bleibt. Zur Unterstützung ließen sich eventuell Hirnbereiche der Probanden deaktivieren oder zumindest lahmlegen, die eine Äußerung „schön“ behindern. Doch es würde sich die Frage stellen, auf was sich das Geschmacksurteil dann noch beziehen könnte, wenn als schön gilt, „was ohne Begriff allgemein gefällt” (vgl. B 32), ohne allgemeine Geltung haben zu müssen.
‚Ohne Begriff‘ kann deutlich machen, dass es sich bei relevanten Gegenständen, die Anlass zu einer Äußerung „schön“ geben, nicht um Kunstprodukte handeln muss. Nicht einmal eine Form wäre begriffslos zu fassen. Eine solche Situation wäre am ehesten experimentell zu erzeugen, wenn man die Probanden überwältigt bzw. wenn sie sich überwältigt fühlen, z.B. bildhaft, klanglich. Es gibt solche Momente, auch im Alltag, in denen Menschen spontan „schön“ äußern, doch um was geht es dabei? In Überraschungsmomenten wird, um auch derzeitige Vorkommnisse einzubeziehen, ebenfalls „boah“ geäußert, oder „geil“, machmal auch „scheiße“, wobei letzteres keineswegs negativ gemeint sein muss. Wird eine spontane Äußerung „schön“ innerhalb von Kants Ästhetik nicht völlig überbewertet?
Diese ausweglose Situation, die vielleicht durch Herkunft und Erziehung etwas aufbereitet werden könnte, gibt sie im Hinblick auf Kunstprodukte dennoch Deutungsmöglichkeiten? Weil ein Geschmacksurteil „schön“ sachlich an nichts gebunden ist, ließen sich deshalb „in schöner Kunst hässliche Dinge schön beschreiben“, soweit nicht Ekel erzeugt wird (vgl. B 188 f.)? Hässlichkeit als auch die Grenze, die Kant mit ‚Ekel‘ bezeichnet, werden nicht mit Hilfe von Geschmacksurteilen näher gefasst. Doch Kant greift zu kurz: Schönheit und schön sind keine Eigenschaften von Gegenständen, dies ist der zentrale Befund der Laborprozedur. Übrig bleiben lediglich Empfindungen, was immer diese zum Ausdruck bringen mögen. Vielleicht ließen sich diese Äußerungen am ehesten mit dem zahnlosen Glucksen oder Quäken eines Kleinkindes vergleichen. Zudem ist ersichtlich geworden, dass Emotionsäußerungen historisch abhängig sind.
IV
Um eine Angemessenheit beurteilen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand, z.B. einem Text, erforderlich. Ohne relativ umfassende Sachkenntnisse bleibt man als Urteilender außen vor. Bezug zu nehmen wäre sowohl auf die künstlerischen Mittel als auch auf die angeschlagenen Themenbereiche, und dies in Relation zu anderen Produkten. Eine Frage nach Angemessenheit wäre die nach einem Resümee.
Ein solches Resultat kann nicht allgemeinverbindlich ausfallen, sondern ist abhängig von den berücksichtigten Lesarten und sonstigen Parmetern, die einbezogen worden sind. Dies mag peinigen, weil die immense Arbeit nichts einzubringen scheint, nichts weiter als eine individuelle Ansicht. Bestenfalls. Denn Urteile können epigonenhaft ausfallen. Auch Rezipienten eröffnen sich gestalterische Möglichkeiten und ein individueller Zugang.
Beide Seiten, Künstler als auch mögliche Rezipienten, hätten sich eine Ästhetik des jeweiligen Textes zu arbeiten, eine Ästhetik, die primär auf den gebildeten bzw. eingeschätzen Relationen der künstlerischen Produkte beruht. Ob dabei Geschmack empfunden wird und welcher, ist nicht von Belang. Gleichwohl werden Emotionen durchschlagen, wohlmöglich akzentuiert, als eingesetztes Mittel, doch als Kriterien würden sie nicht taugen.
Literatur
* Trunz, E., Hg., 1982, Prometheus, In: Goethe - Gedichte, hg. v. dems., München, S. 44-46.
* Kant, I., 1983, Kritik der Urteilskraft, in: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werke, Bd.8, Darmstadt, S.237-620.
* Talmi, K., 2014, Über Ethiken und Gesellschaften, in: Analytische Philosophie? hg. v. Pege, K., Duisburg (PDF), S. 89-101.
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Ein Link zu Kathrina Talmis Essay "Jenseits des Absoluten".
Zunächst sei betont, dass ‚künstlerische Autonomie‘ in Frage steht, eine von Künstlern in ihrer schriftstellerischen Arbeit. Doch ‚sich selber (auto) ein Gesetz (nomos) bzw. eine Regel (zu) geben‘, um eine Übertragung des altgriechischen «αὐτονομία» anzubieten, weist im vorliegenden Kontext auf eine Relation zu anderen Menschen innerhalb einer Gesellschaft hin. Bestünde diese nicht, wäre eine Betonung von Autonomie nicht erforderlich, es bliebe gar nichts anderes übrig.
Künstlerische Aktivitäten finden in Gesellschaften statt, nicht außerhalb. Es wäre unangebracht, Kunst und Gesellschaft wie zwei imaginäre Gegner gegenüberzustellen, die ein Scheingefecht austragen. Ein Potential für Konflikte ist mit diesem Hinweis aber nicht ausgeräumt: Wie belletristisch zu verfahren sei, lässt sich jemand, der autonom arbeiten möchte, kaum vorschreiben. Dies kann bei der sogenannten Rechtschreibung beginnen, betrifft die Worte und Abschnitte, den Aufbau seiner Texte, als auch die einbezogenen bzw. erfundenen Lebewesen, Gegenstände oder Sachverhalte. Entscheidend ist die Wahl des Schriftstellers bzw. Autors, nicht ein germanistisches oder berufliches, von wem auch immer veranschlagtes Reglement. Mit der autonomen Arbeit können sogar Kriterien übergangen werden, die gesellschaftlichen Gruppen, denen ein offener Zugang fehlt, wie an der Hand geführt erlauben, eine Qualität zu beurteilen. Autonomie stellt systematische Verstöße frei, die unter Künstlern nicht einmal als Widersetzungen empfunden werden müssen, um einem Einerlei zu entkommen, das mit gesellschaftlich verbürgten Qualitätskriterien rasch entsteht. Oder um es provokanter zu formulieren: im Rahmen künstlerischer Autonomie ist es egal, ob ein Text wie dieser, der freilich relativ harmlos ist, bürgerlichen Gesellschaftsmitgliedern gefällt. Aus künstlerischer Sicht ist dieser Kreis, wie manch anderer auch, schlicht belanglos! Dies ist das Moment, in dem Emotionen leicht emporschnellen.
Doch beanspruchbare Autonomie ist historisch relativ: Goethes Figur „Prometheus“ (vgl. Trunz, E., Hg., 1982) wird nicht die Möglichkeit eingeräumt, aus dem Nichts zu schaffen. Eine mythische Figur mit gleichem Schriftzug war geläufig, das griechische Altertum wurde zu jener Zeit gefeiert, Homer und Pindar waren neu entdeckt, Homer sogar zu einem personifzierten Genie erhoben, bereits Klopstock hatte freie Rhythmen dichterisch eingebracht; obgleich es zeitbezogene gesellschaftliche Bedingungen gab, die eine Produktion erleichterten, zeichnet das Gedicht einen individuellen dichterischen Zugang aus.
‚Autonomie‘ ist keine Erlösungsvokabel, sondern weist auf viele konkrete schriftstellerische Hindernisse, die sich macher Kollege gerne vom Leib hält: aus einem Wust an Möglichkeiten, sogar logisch unmögliche inbegriffen, auszuwählen, neu zusammenzufügen, zu differenzieren … um nicht, wie es umgangsprachlich üblich ist, dem verbreiteten gesellschaftlichen Trott zu folgen oder kunsthandwerklich in alte Formen zu flüchten, so hübsch und adrett man sie auch finden mag. Eine relevante Erlösung wäre, auf Autonomie zu verzichten, Standards zu folgen oder schlicht eine hypothetische oder bestehende Nachfrage zu befriedigen.
In der Einleitung hatte ich mit Bedacht eine Differenzierung in Kunst und Umgang vorgenommen, um Worte ‚Kunst‘ bzw. ‚Künste‘ sprachlich erst zu ermögliche. Ohne Differenzierung könnte von Künsten, auch von Produkten Literatur, keine Rede sein. Die Tätigkeiten und Erzeugnisse gingen im Alltag unter, wären kaum einer gesonderten Beachtung wert, vergleichbar mit einem Nachbarschaftsgespräch, einem Familienstreit oder einer von Murren begleiteten Sicherheitskontrolle auf einem Flugplatz. Bieten fragliche Texte jedoch mehr als es im Umgang situativ möglich wäre, ist eine separate Bezeichnung angebracht. Dies ist nicht neu, geschieht seit dem Altertum, sei dennoch erläuternd angeführt.
Nach einer ersten Befreiung von religiöser Bevormundung in der Renaissance, bereitete die Aufklärung den Künstlern eine Autonomie, indem nicht nur Talent und angestrebte Natürlichkeit in den Vordergrund rückten, sondern auch eine Selbstbestimmung in der künstlerischen Tätigkeit. Diese sachliche Schlichtheit, die relativ vielen Menschen geläufig sein wird, jedoch nicht allen etwas sagt, wäre durch gespuckte Vokabeln wie ‚Selbstverwirklichung‘ oder ‚Narzissmus‘ zu verunglimpfen? Wäre es hingegen befürwortbar, gesellschaftlich als Anstalt aufzutreten, ob moralisch oder sozialistisch? Altgediente Oberlehrer wären entzückt! Auch Lehrkörper haben sich entscheiden, eine Wahl treffen müssen, sich mit dieser auf ein Publikum ausgerichtet - und auf eine Aufgabe, die fortan den Freiraum einschränkt, dem Leben einen Sinn gibt, in dem man anderen erläutert, worin ihr Sinn besteht. Man rückte pädagogisch in scholastische Tradition.
Bei jungen Menschen kann die Frage aufkommen, welchen Sinn man dem eigenen Leben geben möchte. Meiner Beobachtung nach wird ‚Sinn‘ als Aufgabe gefasst, als Aufgabe in der jeweiligen Gesellschaft. Dieses konkrete Bedürfnis, das mit der Aussicht, die Familie verlassen zu müssen oder zu wollen, drängender wird, ist von ihnen nicht leicht zu beantworten. Und die quälende Freiheit reduziert sich in der Frage leicht auf die Wahl. Ob eine Tätigkeit dazugehört, die autonomes Handeln einräumen könnte, wäre nur ein besonders spezieller Fall. Und ist eine Wahl getroffen, bestimmt sie zumeist den Rest des Lebens … Es muss nicht wundern, dass ‚Autonomie‘ für viele Menschen ein Fremdwort ist, auch in derzeitigen westlichen Gesellschaften.
Zur Unmöglichkeit von Kunstdefinitionen haben vor allem Künstler beigetragen: Provokationen begannen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und sind noch in neuerer Zeit spürbar. Die Ausrichtungen waren vielfältig, ob Dada, PopArt oder Aktionskunst. Gemeinsam war ihnen, eine bildungsbürgerliche Debatte zu überschreiten, in der Bedingungen festgelegt worden waren, die ein Werk zu erfüllen hätte. Das künstlerische Vorgehen betonte die Autonomie, die auch dazu führen konnte, wie im Fall Warhol, Kunst als Business zu betreiben, weil der Kunstmarkt und dessen Akteure exaltiert reagierten. - Doch sobald aus Provokation eine Mode wird, verliert sich die Spitze. Als in jüngerer Zeit, während eines Festivals Neuer Musik, auf der Bühne eine Kuh präsentiert wurde, blieb kaum mehr als ein müder Spaß und Mitleid mit dem Tier. Ohne historische Vorgehensweisen einzubeziehen, wird man keine Kunstdebatten führen können.
Für eine Ästhetik würde die Frage nach einer solchen Handschrift jedoch nicht ausreichen. Die Produkte umfassen mehr. Kathrina Talmi hat in „Jenseits des Absoluten“ vorgeschlagen - enthalten im vorliegenden Band -, nach Angemessenheit zu fragen, in Relation zu inneren als auch äußeren Parametern, die einen Vergleich gestatten. Mit diesem Kriterium geht es unumwunden um die Sache, nicht um ein Gefühl. Es mag sein, dass auch Gefühle entstehen, eventuell sogar aufwallen, doch sie taugen aus empirischer Sicht für eine Beurteilung nicht.
Sie geht den rationalen Laborbedingungen, die Kant experimentell geschaffen hatte, leichthin aus dem Weg. Dies ist nachvollziehbar, berücksichtigt man das emotionale Sprachverhalten von Menschen: Kants Differenzierung in Angenehmes, Schönes und Gutes kann nicht einfach vorausgesetzt werden, ebenso nicht eine Aussonderung von möglichen Begehrlichkeiten und Interessen, bis ein Schönes rein erstrahlt. Probanden hätten Störfaktoren auszublenden, die auf Informationen und Einstellungen beruhen, bis ein hypostasiertes Wohlgefallen übrig bleibt. Zur Unterstützung ließen sich eventuell Hirnbereiche der Probanden deaktivieren oder zumindest lahmlegen, die eine Äußerung „schön“ behindern. Doch es würde sich die Frage stellen, auf was sich das Geschmacksurteil dann noch beziehen könnte, wenn als schön gilt, „was ohne Begriff allgemein gefällt” (vgl. B 32), ohne allgemeine Geltung haben zu müssen.
‚Ohne Begriff‘ kann deutlich machen, dass es sich bei relevanten Gegenständen, die Anlass zu einer Äußerung „schön“ geben, nicht um Kunstprodukte handeln muss. Nicht einmal eine Form wäre begriffslos zu fassen. Eine solche Situation wäre am ehesten experimentell zu erzeugen, wenn man die Probanden überwältigt bzw. wenn sie sich überwältigt fühlen, z.B. bildhaft, klanglich. Es gibt solche Momente, auch im Alltag, in denen Menschen spontan „schön“ äußern, doch um was geht es dabei? In Überraschungsmomenten wird, um auch derzeitige Vorkommnisse einzubeziehen, ebenfalls „boah“ geäußert, oder „geil“, machmal auch „scheiße“, wobei letzteres keineswegs negativ gemeint sein muss. Wird eine spontane Äußerung „schön“ innerhalb von Kants Ästhetik nicht völlig überbewertet?
Diese ausweglose Situation, die vielleicht durch Herkunft und Erziehung etwas aufbereitet werden könnte, gibt sie im Hinblick auf Kunstprodukte dennoch Deutungsmöglichkeiten? Weil ein Geschmacksurteil „schön“ sachlich an nichts gebunden ist, ließen sich deshalb „in schöner Kunst hässliche Dinge schön beschreiben“, soweit nicht Ekel erzeugt wird (vgl. B 188 f.)? Hässlichkeit als auch die Grenze, die Kant mit ‚Ekel‘ bezeichnet, werden nicht mit Hilfe von Geschmacksurteilen näher gefasst. Doch Kant greift zu kurz: Schönheit und schön sind keine Eigenschaften von Gegenständen, dies ist der zentrale Befund der Laborprozedur. Übrig bleiben lediglich Empfindungen, was immer diese zum Ausdruck bringen mögen. Vielleicht ließen sich diese Äußerungen am ehesten mit dem zahnlosen Glucksen oder Quäken eines Kleinkindes vergleichen. Zudem ist ersichtlich geworden, dass Emotionsäußerungen historisch abhängig sind.
Ein solches Resultat kann nicht allgemeinverbindlich ausfallen, sondern ist abhängig von den berücksichtigten Lesarten und sonstigen Parmetern, die einbezogen worden sind. Dies mag peinigen, weil die immense Arbeit nichts einzubringen scheint, nichts weiter als eine individuelle Ansicht. Bestenfalls. Denn Urteile können epigonenhaft ausfallen. Auch Rezipienten eröffnen sich gestalterische Möglichkeiten und ein individueller Zugang.
Beide Seiten, Künstler als auch mögliche Rezipienten, hätten sich eine Ästhetik des jeweiligen Textes zu arbeiten, eine Ästhetik, die primär auf den gebildeten bzw. eingeschätzen Relationen der künstlerischen Produkte beruht. Ob dabei Geschmack empfunden wird und welcher, ist nicht von Belang. Gleichwohl werden Emotionen durchschlagen, wohlmöglich akzentuiert, als eingesetztes Mittel, doch als Kriterien würden sie nicht taugen.
Literatur
* Trunz, E., Hg., 1982, Prometheus, In: Goethe - Gedichte, hg. v. dems., München, S. 44-46.
* Kant, I., 1983, Kritik der Urteilskraft, in: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werke, Bd.8, Darmstadt, S.237-620.
* Talmi, K., 2014, Über Ethiken und Gesellschaften, in: Analytische Philosophie? hg. v. Pege, K., Duisburg (PDF), S. 89-101.
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Ein Link zu Kathrina Talmis Essay "Jenseits des Absoluten".
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