Mittwoch, 6. August 2014
Siechenhaus (VI)
X

Luxus können Sie bei uns nicht erwarten. Bitte folgen Sie mir die Treppe hinauf. Die beiden Fahrstühle müssen den Patienten und dem Personal freigehalten bleiben. Unter einem solchen Haus gibt es nur die Straße. Aber hier geht es hoch bis in den Himmel! Ob wir Zugang erhalten, ist aber noch ungewiss. Ich warte noch auf eine SMS. Als Himmel benannten wir die Hospizstation, oben unterm Dach. Erinnert sich vielleicht jemand von Ihnen an einen rosaroten Horizont im Winter, kurz vor Weihnachten, und an Worte: Dort backen die Engel Plätzchen? Ein solches Rosarot, leicht ins Orange tendierend, haben wir als Dekorfarbe gewählt. Kein Luxus, nur eine Nettigkeit, um das Sterben zu erleichtern. Je älter unsere Patienten werden, um so präsenter wird ihr Langzeitgedächtnis. Und wenn unsere Damen und Herren verwirrt fragen, wo ich bin ich, lässt sich antworten, im Himmel. Eine Labsal, solche Worte.

Unsere finanzielle Lage korrespondiert mit der Armut der Stadt. Dies ist leider so. Sie können auch für Farbe spenden, oder Pinsel. Abnutzungerscheinungen sind nicht zu vermeiden. Farben blättern wie ein Wald im Herbst. Aber wir tun das Mögliche, um eine solche Phase nicht lange andauern zu lassen. Ein Ausfall des Kurzzeitgedächtniss von Patienten hat in unserem Haus immer wieder zu erstaunlichen Geschehnissen geführt. Eine Dame wurde auf der Straße angetroffen, die in Hemdchen, mit Handtasche und in Badelatschen den Bus nach Ostenpreußen suchte. Vorsicht, die Schranke wurde eingerichtet, damit niemand die Treppe hinterfällt. Unter einigen Patienten sind Selfies in Mode gekommen. Wenn sie auf ihre Handspiegel, oder auf hereingebrachte Mobiles starren, verlieren sie leicht die Orientierung. Neue Hüften, die sind Luxus.

Als die Sozial- und Krankenberechnungen eingeführt wurden, blieben vielen Menschen nach dem Arbeitleben noch etwa fünf bis zehn Jahre. Inzwischen hat sich die Zeit des Ruhestands im Durchschnitt verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Mit dem Altern der Gesellschaft wird das Modell untragbar. Es bleibt kaum anderes übrig, als die Versicherungleistungen sukzessive zu reduzieren und bei einer bestimmbaren Altergrenze einzustellen. Ihr Weg könnte vom Himmel auf die Straße führen, oder in ein Gebüsch. Ich bin davon überzeugt, dass wir zukünftig viele Menschen draußen sterben sehen.

Dies hier ist übrigens die Knochenstation, samt der Fachabteilung Orthopädie, die von einigen Patienten scherzhaft Rollbrettausgabe genannt wird. Über ein mangelndes Selbstbewusstsein der alten Menschen können wir in der Regel nicht klagen.


XI

Aber ich hab doch einen Anspruch! Mein ganzes Arbeitsleben hab ich eingezahlt. Wie sie zu Recht betonten, in Versicherungen! Da kann mir niemand mit einem Rollbrett kommen! Ich bestehe auf meinem Recht! Mir ist völlig egal, wo das Geld herkommt. Entweder Recht, oder ich geh auf die Barrikaden!

Wenn sie meinen. Aber ihr Geld ist dann schon futsch! Ich hab mir das mal erklären lassen. Was sie einzahlten, ging an die älteren Generationen. Was sie in Zukunft bekommen könnten, legen die Jungen ein, eventuell. Und was ausem Aufbau von Finanzen werden kann, hat doch die letzte Krise, diese Finanzkriese gezeigt. Nix.

Beruhigen Sie sich doch. Sie beide beschreiben Probleme, doch eine Lösung ist nicht in unserem Haus, vielleicht nicht einmal durch die Politik zu finden. Wir können nur darauf hinweisen, dass mittelalterliche Verhältnisse leichter und rascher eintreten können, als gemeinhin angenommen wird. Frappierend ist: Die Zukunft hält keine Generationen mehr vor.

2060 bin ich längst tot. Was soll das! Ich will nicht 2060 mein Recht, sondern jetzt, also bald, sobald man mich aufhören lässt. Und dann will ich mein Geld auskosten und lachen, über all diejenigen, die noch arbeiten müssen. Diese armen dreckigen Schweine!

Jetzt ist aber gut! Was soll denn die Dame von uns denken? Sie und der andere Herr haben Ihre Meinung kundgetan. Wo soll das hinführen? Ich meine, Sie hat doch geantwortet, da muss man doch nicht schließlich noch rumpöbeln.

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Dienstag, 5. August 2014
Siechenhaus (Teil V)
IX

Ich darf Sie herzlich in unserem Gerontologischen Klinikum begrüßen. Die Sonne scheint freundlich durch die großen Fenster der Einganghalle und lässt uns einen hellen Blick in Ihre Zukunft werfen. Ältere Mitbürger sind in unserer Gesellschaft seit Längerem keine Ausnahmen mehr. Und dieser Prozess kann sich noch verstärken. 2060 wird es, einer Berechnung des Statistischen Bundesamts nach, in Deutschland eine geringere Bevölkerungdichte geben, ceteris paribus, als nach dem Zweiten Weltkrieg. Und fast alle werden Greise sein. Wir haben uns entschlossen, diese demografische Entwicklung aktiv zu begleiten, soweit die gesetzlichen Vorgaben dies zulassen werden.

Wenn Sie vorgesorgt haben, geben Sie uns die Möglichkeit, auch Sie zu einzubeziehen. Sogar eine Mitbestimmung haben wir angelegt. Ein Ältestenrat beteiligt sich an unserem Engagement. Leider fällt es diesem Personenkreis etwas schwer, sich an die Rolle zu gewöhnen. Ein typisches Krankheitbild wie Demenz schränkt die Entscheidung- und Handlungkompetenz ein. Aber die Patienten finden auf allen Etagen bereitwillige Helfer, die unterstützen. Wir sind übrigens vielsprachig. Wenn Ihnen die Viet-Muong-Gruppe geläufig ist, oder Palaung-Wa, dann können Sie nach Herzenlust mit unseren mandeläugigen Mitarbeiterinnen kommunizieren. Dies ist ja die Grundvoraussetzung, um sich wohlfühlen zu können, eine offene aber nette Kommunikation.

Um Ihnen zu demonstrieren, wie zukunftweisend unsere Einrichtung ist, möchte ich Ihnen die Konsequenz vor Augen halten, die sich aus einer fehlenden Vorsorge ergibt: Zustände wie im Mittelalter! Das darf nicht sein! Aber ich will sie nicht schrecken. Wir sind ja alle vernünftig. Alles kein Problem. Ist es kein Traum, sich von mandeläugigem Liebreiz im Alter verwöhnen zu lassen?

Als gerontologisches Klinikum sind wir spezialisiert auf Erkrankungen, die im Alter auftreten. Es ist bekannt, dass, je älter die Menschen werden, auch die Leiden im Durchschnitt zunehmen. Weshalb sich die Menschheit dies antut, kann ich Ihnen nicht sagen, wir haben uns aber entschlossen, darauf zu reagieren und Ihr den Abschied von der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten, mit allem medizinischen und menschlichen Raffinement, das sich von uns, dem Klinikum und seinen Mitarbeitern, aufbieten lässt.

Ich gehöre zum Team Öffentlichkeit und werde Sie durch einige Abteilungen führen. Nicht alle sind für Sie frei zugänglich, um die dort eingeschobenen Patienten nicht unnötig in Unruhe zu versetzen. Wir nehmen auch Spenden an. Sogar kleine Mittel erleichtern uns die Anschaffung von Gerätschaften und Utensilien, z.B. von Klopapier und Flüssigseife der Toiletten. Und wie Sie vielleicht bemerkt haben: Sie finden in mir eine Ansprechpartnerin, die auch Ihren etwaigen kritischen Fragen nicht ausweichen wird.

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Sonntag, 3. August 2014
Siechenhaus (Teil IV)
VII

Ich habe gut reden, nicht wahr? Als ihr Touristenführer, der aus beruflichen Gründen nicht viel wissen darf, breit ich ne Menge Siff aus. Dies ist eine der letzten Eckkneipen in Hochfeld. Nur Flaschenbier. Keine Leitung in den Keller. Und die Theke bleibt trocken, so lange niemand draufkotzt. Wie sie an den Postern und Plakaten des MSV sehen können, eine bekennende Fußballleidenschaft der jungen Betreiber. Öffnet erst am späten Nachmittag, ein- zweimal die Woche. Und lässt auch bekennende Fußballignoranten hinein, wie mich.

Das Siechenhaus liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Vielleicht ahnen sie bereits, um was es sich handeln könnte. Bevor ich ihnen jedoch das Gebäude präsentiere, ist konkreter auf Sprache einzugehen. Seit einigen Jahrzehnten ist sie fast unerheblich geworden. Nicht weil sich junge Leute in ihr austoben, Linguisten Schwierigkeiten haben, den Schöpfungen nachzukommen, sich Lehrer verbittert über eine Rechtsschreibschwäche ihrer Schüler äußern.

Ich frage sie erst gar nicht, was ihrer Meinung nach Sprache ausmacht, die übliche Antwort wäre, dass Sprache im Grunde nichts sei, aber zu etwas dienen könne, besonders zur Kommunikation. Diese Ansicht ist nicht nur unter den meisten Leuten verbreitet, sondern wird auch durch Theorien aufbereitet, deren Urheber keinerlei Interesse an Sprache bekundeten. Dies ist leicht zu erkennen, bereits durch den Themenwechsel, das Ausweichen, das Unverständnis.

Vielleicht war es elegant, den Konstruktivismus durch eine Sprachtheorie zu bereichern, in der es nicht um Sprache, sondern um Kommunikation ging. Dieses Vorgehen hatte einen kybernetischen Grund: Nicht Worte, sondern Zeichen wurden herangezogen. Zeichen gibt es durchaus, z.B. in der Mathematik, dort haben sie auch Bedeutungen, es wäre jedoch aussichtlos, Bezüge unterstellen oder bilden zu wollen. Was lag näher, als diese kommunikativ zu unterschlagen? Die Unangemessenheit führte jedoch dazu, über nichts sprechen zu können, nicht einmal über Sprache! Nur Geplauder und Gesabber. Verstehen sie? Es ist leicht geworden, in einer Straßenbahn vor lauter Schleim und Blasen rettungslos zu ersaufen. Später wurde angeboten: Alles sei Kommunikation! Ja, warum nicht eine Sintflut?


VIII

Warum fällt es schwer, über Sprache zu sprechen? Weil uns, aufgrund der Schulzeit, kaum mehr einfällt als das Regelwerk und die Lexika von Linguisten, die aus der Sprache eine Jurisprudenz mit zahllosen Rechtsfällen werden ließen? Ist Sprache vielleicht zum Traktieren da?

Kultur, ich weiß, die hat mir gerade noch gefehlt! Kultur schafft eine mehr oder weniger idyllische Ordnung, besonders gegenüber der Natur, nicht wahr? Doch sind Beton und Glas metaphysisch, oder auf andere Weise der Schwerkraft entzogen? Und sind sie nicht entstanden, ein kausales Resultat? Was sind das für sonderbare Blasen, Kultur, Natur, die nichts verstehen lassen, nichts als die menschliche Unbeholfenheit in Zeiten der neolithischen Revolution? Der Jungsteinzeit! Hat denn niemand Lust, sich weiterzuentwickeln? Der Gestank eurer alten Felle ist doch kaum noch zu ertragen, auch falls ihr einräumen würdet, die von Insekten zerfressenen Umhänge seien eventuell Bestandteil der Natur.

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