Mittwoch, 24. September 2014
Warum Sprache?
I

Literatur ist gesellschaftlich zu umfangreich, als dass sich der Bezug eines Wortes Literatur auf Gedichte, Erzäh­lungen, Romane, Theaterstücke, Aphorismen und Essays beschränken ließe. Sieht man von ästhetisch-emotionalen Empfindsamkeiten ab, die bereits im Vorfeld einen Zugang zu Sprache verwehren können, rücken Sprache und Sachverhalte, mit diesen Angemessenheit in den Blick. Der eröffnete Be­reich ist weit, umfasst sowohl Unterschiede von sogenannter belle­tri­stischer zu anderen Sprachen, als auch den künstlerischen Ausdruck. Auf wieviele Bände dieser Essay angelegt sei?
In der Belletristik besteht die Möglichkeit, zu einer praktischen Präzi­sion zu gelangen, mit der indirekt vor Sinne geführt wird. Ein Grad von Bildhaftigkeit ist nicht das entscheidende Kriterium, sondern die Angemessenheit in einem bestimm­ten Fall. Auch für belletristische Essays ist kein geeigneteres Kriterium angebbar. Zu berücksichtigen ist allerdings: mit einer Artikulation von Evidenzen hat man es nicht zu tun. Gründe anzugeben, wäre ein geeignetes Unterfangen.

Schriftstellern und Sprachphilosophen kann vor der Umgangssprache ein ähnliches Gefühl überkommen: Ver­zweiflung. Eine sprachliche Lösung für dieses Problem gibt es nicht. Auch wenn ‚ideale‘ Sprachen neben der alltäglichen geschaffen werden, ändern sich die Wortwechsel mit Freun­den, Bekannten und die Medienberichte nicht. Bei Kon­fron­ta­tionen erneuert sich stets die miese Empfindung.
Was ist zu tun? Den Gequälten fehlt etwas: Distanz. Über Ideales ist bei Schriftstellern wenig zu erfahren. Anführen lassen sich primär Kritiken über die Umgangssprache, die leider kaum dezidiert vorgebracht werden, sondern polemisch. Die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann hat im Winter­semester 1959/60 ihre heute immer noch aktuellen „Frank­furter Vorlesungen“ gehalten; meines Erachtens gehören sie zu den besten essayistischen Erzeugnissen, die nach dem zweiten Weltkrieg von Schriftstellern über Sprache verfasst worden sind.

Zunächst sei ihrer Polemik Raum gegeben: „Die Lite­ratur aber, die selber nicht zu sagen weiß, was sie ist, die sich nur zu erkennen gibt als ein tausendfacher und mehr­tausendjähriger Verstoß gegen die schlechte Sprache - denn das Leben hat eine schlechte Sprache - und die ihm darum ein Utopia der Sprache gegenübersetzt, diese Literatur also, wie eng sie sich auch an die Zeit und ihre schlechte Sprache halten mag, ist zu rühmen wegen ihres verzweiflungsvollen Unterwegsseins zu dieser Sprache und nur darum ein Ruhm und eine Hoffnung der Menschen. Ihre vulgärsten und preziösesten Sprachen haben noch teil an einem Sprach­traum; jede Vokabel, jede Syntax, jede Periode, Inter­punktion, Metapher und jedes Symbol erfüllt etwas von unserem nie ganz zu verwirklichenden Aus­druckstraum.“ (Bachmann, I., 1984, S.92.)
Das Engagement ist beeindruckend, doch weshalb ist die vorgefundene Sprache schlecht? Warum sollte ein Ausdruckstraum noch verwirk­licht werden, der offenbar längst ist; ließe er sich vielleicht umsetzen wie ein harter Stuhl, der doch kein Sofa wird? Sie stellt Ausdruckssprache gegen vorgefundene Sprache, äu­ßerst viel steht zur Disposition, eventuell zu viel? In Bezug auf das angenommene Ungenügen vorge­fun­dener Sprache hat sich Bachmann in ihren Vorlesungen ausführlicher geäußert. Deutlich wird, wes­halb Sprache allgemein thematisiert wird.
„Wir meinen, wir kennen sie doch alle, die Sprache, wir gehen doch mit ihr um; nur der Schriftsteller nicht, er kann nicht mit ihr umgehen. Sie erschreckt ihn, ist ihm nicht selbstverständlich, sie ist ja auch vor der Literatur da, be­wegt und in einem Prozeß, zum Gebrauch bestimmt, von dem er keinen Gebrauch machen kann, ist nicht das soziale Objekt, das ungeteilte Eigentum aller Menschen. Für das, was er will, mit der Sprache will, hat sie sich noch nicht bewährt; er muß im Rahmen der ihm gezogenen Grenzen ihre Zeichen fixieren und sie unter einem Ritual wieder lebendig machen, ihr eine Gangart geben, die sie nirgendwo sonst erhält außer im sprachlichen Kunstwerk. Da mag sie uns freilich erlauben, auf ihre Schönheit zu achten, Schön­heit zu empfinden, aber sie gehorcht einer Verän­de­rung, die weder zuerst noch zuletzt ästhetische Be­friedigung will, sondern neue Fassungskraft.“ (Ebd., S.16.)
Die Rede über Gebrauch irritiert. Man spricht die all­tägliche Sprache. Wäre es erhellend, zu sagen, dass man die Sprache zum Sprechen gebraucht? Wenn man die Wahl zwischen zwei Worten hat, ließe sich äußern, dass man eines von beiden für einen Satz, z.B. für einen Einwortsatz nutzt, erwähnt sei der Fall Scheiße / Scheibe, allgemein sagt aber eine Veranschlagung von Gebrauch kaum etwas aus. Wittgensteins Spätphilosophie (vgl. Wittgenstein, L., 1984) könnte hier Spuren hinterlassen haben, die fun­da­mentale Annahme von Sprachspielen, die durch diffe­renten Gebrauch geprägt werden. Doch haben nicht sogar die oben zur Wahl gestandenen Einwortsätze Scheiße / Scheibe vor allem Bezug?
Die Verzweiflung resultiert aus der Einsicht, dass Umgangssprache keine belletristische Ausdruckssprache ist. Es fällt schwer, angemessene Diktionen zu schaffen. Dieser Kontext ist nicht unerheblich. Zu verzweifeln dürfte jeden situativ betreffen. Doch wie hoch möchte man den Schmerz hängen? Weshalb sollte man die alltägliche Sprache, die im Umgang zumeist ausreicht, trotzig als schlecht bezeichnen?

Bachmann gibt zu erkennen, dass nicht ein Spiel samt Regeln für den feierabendlichen Gebrauch im Zentrum steht, sondern sprachliches Erfassen, Präzision und in diesem Fall Bezüge, auch wenn letztere durch Metaphern zur Geltung kommen. Über Wittgensteins Theorie und Bachmanns Aufnahme lässt sich leicht hinweggehen. Wenn sie dichtet:

„Blätterverschleiß, Spruchbänder,
schwarze Plakate ... Bei Tag und bei Nacht
bebt, unter diesen und jenen Sternen,
die Maschine des Glaubens. Aber ins Holz,
solang es noch grün ist, und mit der Galle,
solang sie noch bitter ist, bin ich
zu schreiben gewillt, was im Anfang war!“

[Gedicht „Holz und Späne“, Bachmann, I., 1983, S.50.]

dann wird außer ihrer Sprachgewalt deutlich, dass sie vermitteln, anregen, aufklären will.

Die in den Vorlesungen geäußerte Verzweiflung vor der Umgangsprache und die angenommene Notwendigkeit, Worte dieser zu fixieren, in einem Ritual zum Leben er­wecken zu müssen (vgl. Bachmann, I., 1984, S.16), legt ein Missverständis in Bezug auf alltägliche Sprache frei, das leider nicht selten als Ausgang zu belletristischen Konzep­tionen dient: Babylon, Sprachverwirrung, unzählige Bedeu­tungen. Es ergibt sich die Frage, ob ein Wort mindestens zwei sprachliche Bedeutungen haben kann. Ich erläutere meine Unruhe kurz. Ein Wort Bank mag sich auf ein Sitzgestell im Park beziehen, ein anderes auf ein Geldinstitut. Was ist an den Worten gleich? Nur die Lautgestalt? Diese reicht aber zur Annahme eines Wortes Bank nicht aus. Mir fehlt die Verwirrung.
Das angestrebte Fixieren eines Wortes kommt einer Tötung gleich: eine anschließende Belebung würde sich ansonsten vermeiden lassen. Dass jedoch kein Gewaltakt vorliegen kann, wenn ein künstlerisches Wort einen ungewöhnlichen Bezug aufweist, different ist, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Ihre Fassung der vermeintlichen Aktionen kann sich nur auf Empfundenes richten, das dem zu beschreibenden Sachverhalt nicht angemessen ist.
Bachmanns Entwurf ist spätromantisch befangen (vgl. die Diskussionen über Baudelaire, Rimbaud und Mallarmé bei Friedrich, H., 1985, S.35-139, bes. S.55-57). Aufklärung leisten zu wollen, reicht allerdings über spät­romantische Konzeptionen hinaus. Man könnte von einer Janusgestalt der Autorin sprechen. Erst wenn zum Verständnis Tagebücher herhalten müs­sen, man gezwungen wäre, jemandem in die Dachstube zu folgen und in der Schublade seines Nachttischs zu schnüffeln, erst dann wäre selbst ein weit gefasstes Wort Auf­klärung ohne erkennbaren Wert, es sei denn, man nutzt es zur Phrasierung des Schnüffelns.


II

Für das Zwanzigste Jahrhundert lassen sich in Bezug auf deutschsprachige Belletristik sehr grob zwei Hauptströmungen kon­sta­tieren: eine spätromantisch befangene und eine auf­klärerische. Brecht gilt gemeinhin als der Aufklärer; wäre eine solche Annahme aus sprachlicher Sicht zu be­gründen? Innerhalb der Spätromantik wird eine durch Gewalt erbrachte Differenz zwischen künstlerischer und alltäg­licher Sprache postuliert. Brechts Sicht ist eine historische, aus der genetische Zusammenhänge zwischen künstlerischer und alltäglicher Sprache angenommen werden. Eine Vokabel wie Zurück­führung erlangt theoretisches Gewicht: eine sozialroman­tische Sicht?

„Mit Vergnügen lese ich
Wie Horaz die Entstehung der Saturnischen Verskunst
Zurückführt auf die bäuerischen Schwänke
Welche die größten Häuser nicht schonten, bis
Die Polizei boshafte Lieder verbot, wodurch
Die Schmähenden gezwungen wurden
Edlere Kunst zu entwickeln und mit
Feineren Versen zu schmähen. So wenigstens
Verstehe ich diese Stelle.“

[Gedicht „Briefe über Gelesenes, II“, Brecht, B., 1984, S.870]

Zum direkten Vergleich sei auch Horaz zitiert; die einfachen Anführungszeichen machen den Text als Über­setzung kenntlich:

„‚Die Landleute der alten Zeit, rüstig zur Arbeit und genügsam im Genuß, wollten nach Einbringung der Früchte ihr Fest feiern ... Bei solchem Brauch kam die lustige Art der Feszenninen auf, - ein Wechselgespräch in Versen, das sich in ländlich derben Schimpfworten gefiel. Durch jährliche Wiederkehr ward der Freimut zur an­erkannten Sitte und trieb sein Spiel ganz harmlos, bis der Scherz verrohte und in offene Bosheit überging, die nun in ach­tens­werte Häuser ungestraft drohend das Ärgernis trug. Bitter empfanden es die Angegriffenen, die durch den blutigen Biß verwundet; auch Unverletzten kam die Sorge: denn allen konnte Gleiches widerfahren. Sogar der Gesetz­geber schritt ein, und jede kennzeichnende Verhöhnung durch böse Spott­lieder ward mit Strafe bedroht. Da wech­selten sie die Ton­art; der Knüttel schreckte: sie besannen sich notge­drungen auf die sprachliche Zucht, auf erhei­ternde Wir­kung.
Griechisch Land ward erobert; erobernd den rauhen Besieger, führt’ es die Kunst in Latium ein, beim Volke der Bauern. So verlor sich der garstige alte Saturnvers, und ekler Mißgeschmack wich säuberndem Bemühen; doch für eine lange Weile noch blieben Spuren der Ackerkruste sicht­bar und sind selbst heute noch zu sehen.‘“

[Epistel 1, Buch 2, Verse 139-160; Übersetzung: W. Schöne.]

Die von Horaz geschilderten Vorgänge sind komplexer und nicht auf das simple Schema von Brecht zu reduzieren. Erst in Latium, durch Römer, ohne erkennbaren sozialen Zwang, seien feinere Kunstwerke entstanden. Der abschlie­ßende Hinweis von Brecht auf ein persönliches Verständnis der Verse kann einen konzeptionellen Hintergrund haben. Die alten Verse wären lediglich Anlass für eine Einordnung des Geschilderten.
Brecht kannte offenbar Benjamins Thesen. In einem Nach­ruf nimmt er die bildhafte Eröffnung in einer Weise auf, die auf Zuspruch hindeutet (vgl. Brecht, B., 1984, S.828 (Gedicht „An Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Hitler entleibte“) mit Benjamin, W., 1974, S.693). Brechts Kommentar über das in den alten Versen Geschilderte liest sich wie eine Einlösung, geschichtliche Monaden zu schaffen, in denen ein Sozialkonflikt zwischen Herr­schenden und Unterworfenen die Möglichkeit zur Utopie eröffnet (vgl. Benjamin, W., 1974, S.702/703). Man muss schon Benjamins Ansicht über die Verschwö­rung von Historikern mit Herrschenden teilen, die auf den para­psychischen Vorgängen des Einfühlens ruhen, (vgl. ebd., S.696), um auf spannungsreiche monadische Bilder setzten zu können.

Sieht man von sozialromantischen Bearbeitungen der Verhältnisse von alltäglicher und künstlerischer Sprache ab, bleiben noch sprachliche Probleme zur Erfassung geschicht­licher Abfolgen übrig. Es mag sein, dass man mir aufgrund des Erläuterten Penibi­lität vorwirft; gerade diese ist für Aufklärung jedoch nicht unwichtig.
Das Problem bieten Metaphern. In vielen Fällen weiß man sie aufgrund von sprachlichen und sachlichen Erfahrungen einzuschätzen. In einigen Fällen verschleiern sie aber: sind unangemessen. Brecht spricht im Kontext der Epistel von Horaz über eine Zurückführung der Entstehung saturnischer Verse auf bäurische Schwänke. Diese Annahme, setzt man einmal voraus, die Schilderung des geschichtlichen Ablaufs entspräche dem Text der Epistel, ist zu salopp. Die Entstehung wird nicht auf die Schwänke, sondern auf den sozialen Konflikt zurückge­führt. Sogar diese Annahme ist noch zu unpräzise: die Ent­stehung hätte während des Konflikts stattfinden müssen. Es ließe sich aber sagen, dass der Konflikt eine Bedingung war, andere Verse zu bilden. Diese wiesen mit den Vorherigen noch einige Ähnlichkeiten auf.
Die Metaphern, die einen inneren Zusammenhang, eine Wandlung von Differentem wenngleich Ähnlichem sug­ge­rieren, sind streng genommen Fehlübertragungen. Sprache, in diesem Fall ein Schwank, kann sich unmöglich in saturnische Verse wan­deln noch ge- oder verwandelt werden. Der Schwank bleibt was er ist, die saturnischen Verse kommen hinzu. Sogar von der Wandlung kann noch abgesehen wer­den, ohne zu angemessenen Fassungen der Verhältnisse von umgangsprachlicher und belletristischer Sprache zu kommen. Als inneres Abhängigkeitsverhältnis käme bei Brecht die An­nahme eines symbiotischen Verhält­nisses in Frage. In diesem Kontext ist es möglich, auch Bachmanns Ansicht zu interpretieren: man müsste von einer verzweifelten Schaffung von Distanz sprechen, die bei einigen Spätromantikern, so ist hinzuzufügen, allerdings höhere Grade erreicht. Die ver­meintlich notwendige Abtötung von alltäg­li­cher Sprache deutet auf eine verzweifelte Abwehr von Symbiose hin, die freilich ein Scheingefecht bleibt. Ist Distanz möglich?


III

Es gilt den Kopf frei zu bekommen. Nicht Gefühl, so stark auch ein Bedürfnis nach Ausdruck vorhanden sein mag, Sprache steht im Zentrum. Sind nicht auch Bedürf­nisse angemessen zu verrichten? Gefühl muss keineswegs ausgespart, nicht einmal vor­der­gründig kontrolliert werden. Durch Erfahrungen und Einsichten können sich andere Präferenzen ergeben. Aus emotionaler Sicht kann die veränderte psychische Organisation durchaus voll von Ord­nung oder massiv chaotisch sein, wie ehedem.
Nicht allein Gefühl, auch der intellektuelle Hang an Bewusstsein und Gedanken beeinflußt den Blick auf Sprache wie Buntglas- oder trübe Milchglasscheiben. Frag­los mag jemand bewusst sein, er mag auch allerlei Denken, ob nach auferlegten Regeln oder keinen; nicht was einer mit stum­mem Hirn denkt, seine Aussagen sind von Relevanz. Man kann andererseits nur hoffen, dass unverhältnismäßig mehr gedacht als gesprochen wird.
Ich habe blankgezogen. Welche Sprache man auch betrachtet, es bleibt zunächst kaum mehr übrig, als Rolf Dieter Brinkmann in seinen frühen Texten konstatiert hat:

„Von der Gegenständlichkeit eines Gedichtes

Die Farbe
der Tinte ist königsblau
die Feder aus Stahl
schreibt die Worte
auf das weiße Papier

die angewandte Grammatik enthält
nichts über Wetteraussichten
und sie mißt dem
Vogelflug nicht die geheime Formel bei
leichter zu sein als die Schwermut ohne Regel
ist die Landschaft angeordnet
das Blattgrün ist fehlerlos die
Bäume verbergen der
vorhandenen Sprache
die innere Wildnis

mit der Feder
aus Stahl schreibe ich
die Worte auf das weiße
Papier die Farbe
der Tinte ist
königsblau“

[Brinkmann, R.D., 1980, S.17.]


Brinkmann vollführt im Mittelteil eine Reduktion. In Bezug auf Sprache bleibt Beobachtbares. Unangemessene Be­deutungen und Vergleiche werden ausgeschieden. An­fang- wie Schlußteil zählen Verbliebenes auf.
Die Kombination der Worte Stahlfeder, Worte, weißes Papier, königsblaue Tinte ergibt ein prägnantes Sprachbild: das dichterische Ich hat relative Autonomie. Die Abfolgen mit der anfänglichen und schließenden Betonung auf dem Wort königsblau könnte manchem Leser als Hybris er­scheinen; wer zählt schon den Kopf zu seinen eigenen Gliedern.
Verwunderlich ist, dass der Ausdruck des Textes nicht zum Ausgesagten passt. Das dichterische Ich wird nicht ent­deckt. Es wird lediglich registriert, gleichsam als eines der an­ge­sammelten Dinge. Aufgrund des unentdeckten Ichs bleibt Sprache weit unter den Möglichkeiten:

„ist niemand da
der wollte zurück
dann nennt ihr es Sprache
ein Spiegel an der Wand
wer ist die Schönste
im ganzen Land

DIE SPRACHE DER STEINE
UND WIR HABEN KEINE“

[Gedicht „Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand“, Brinkmann, R. D., 1980, S.29.]

Muss ein harter Schlag gegen Verästhetisierungen vor und in Dichtungen zugleich zu einem Abschlag vorhandener Mög­lichkeiten führen? Ist relative Autonomie entdeckt, dann … Aber vielleicht erhebt sich bereits eine empfundene Allgewalt gesellschaftlichen Seins im Tonfall einer Kritik, die, sieht man von demonstrierten Leidver­zückungen ab, im Extremfall sowohl schutzhafte Ver­barri­kadierungen hinter Agitprop als auch kosmetische Hygiene in einem privaten WC durch poesie pur erlaubt.


IV

Es gibt tradierte sprachliche Formen in der Belletristik und im Volkstum. Individuell herausgebildete Formen, die sapphische Strophe sei angeführt, animierten Künstler nicht, allenfalls zur Abfassung eines Zu- oder Nachrufs. Anders sieht es in Bezug auf kollektive Formen aus.
Im Kontext zeitgenössischer Prosa und Stücke lässt sich allgemein nicht angeben, was ein Roman, was ein Stück ist. Vorfinden lassen sich aber Resultate von Verarbeitungen, so in Grass’ Roman „Der Butt“ (vgl. Grass, G., 1979).
Wenn man bislang nur Prosa gelesen hätte und man entschlösse sich, auch mit der Lektüre von Gedichten zu beginnen, dann stände man während der Einarbeitung zu­weilen fassungslos vor anerkannten zeitgenössischen Pro­duk­ten, deren metrisches Gerüst längst verfault und zer­fallen sein müsste. Es gibt Läden, in denen Replikate alter Teddybären, Puppen usw. angeboten werden; dass aber Belletristik derart abgleiten kann ...; oder liegt gar keine Belletristik vor? Vielleicht handelt es sich nur um knuffigen Kitsch.

„Ars poetica

Danke ich brauch keine neuen
Formen ich stehe auf
festen Versesfüßen und alten
Normen Reimen zu Hauf

zu Papier und zu euren
Ohren bring ich was klingen soll
klingt mir das Lied aus den
Poren rinnen die Zeilen voll

und über und drüber und drunter
und drauf und dran und wohlan
und das hat mit ihrem Singen
die Loreley getan.“

[Hahn, U., 1981, S.78.]

Volkslied, Chevy-Chase-Strophe zu Beginn, wo nehm ich das Zeug her, wenn nicht aus: es war einmal. Und auch wenn die Zeilen wie im 19. Jhd. noch gangbar wären, bereits über die Versesfüße würde man kräftig ins Straucheln geraten, ob zu Fuß oder per Kutsche. Ulla Hahn, die neben jenem Klang, patiniertem Sing­sang, in anderen Texten auch reichlich Witz und Ironie ver­sprüht, weshalb zum Ende der ars poetica die Schuß­fahrt durch Hildebrandgassen; Hufe schlagen, die Räder ver­reißen, Gejohle im Freizeitpark. -

Um Angemessenheit besorgt war Brecht. Er setzte Form und Gesellschaftliches in ein Verhältnis. „Alles For­male, was uns hindert, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß weg; alles Formale, was uns ver­hilft, der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß her.“ (Brecht, B., 1967, Bd. 2, S.97.) Bezieht man ein, dass die zentrale gesellschaftliche Auseinandersetzung in der Weimarer Republik ein Kampf um die Vorherrschaft zwi­schen ostdeutschem Junkertum und westdeutschen Kapita­listen aus dem Ruhrgebiet war, man beachte besondere die Streitigkeiten unter den Konservativen beim Kapp-Putsch im Jahr 1920, dann ergaben sich aufgrund der ver­gleichsweise späten Ablösung primär feudaler durch kapita­listische Ökonomie eventuell noch Einsatzmöglichkeiten tradierter Formen. Für Brecht bestand das Volk primär aus Arbeitern; er übertrug.
Was ist von einem Schriftsteller zu halten, der den lite­raturwissenschaftlich erstellten Kanon von Formen ab­leiert, gleichsam als Mitglied der ständischen Akademie von Kün­sten. Brecht, der sich zum Teil sorglos bedient, bricht stellenweise aus. Er produziert reimlose Gedichte mit un­regelmäßigen Rhythmen und rechtfertigt diese literarisch durch den Hinweis, dass regelmäßige Rhythmen unterlegt werden können (vgl. die Aufsätze in: Brecht, B., 1967, Bd. 3, S.20ff.). In den Gedichten zeigt auch die Form im be­grenzten Maße Neues an. Brecht bleibt jedoch befangen.
Relative Autonomie nimmt sich Brecht in der Theater­arbeit heraus. Er verändert Texte durch Erfordernisse deut­licheren, gestischen Sprechens (vgl. ebd.); die Zusammen­arbeit mit Eisler; er schuf Parabeln. Parabeln? Bürgerliches? Parabeln waren bereits früh vorhanden, sind gesellschaftlich nicht leicht zuzuordnen, wie ein zusätzlicher Blick in jüdische und frühchristliche Literaturen lehrt.


V

Ein imponierendes Ergreifen von relativer Autonomie, wenngleich jugendlicher Leichtsinn nicht gefehlt haben dürfte, unternahm eine kleine Gruppe von Autoren im Sturm und Drang. Sie sprengten ihre ständischen Fuß­fes­seln, die Fürsten, Kirchen und Bürger ausgelegt hatten. Zur herausgenommenen künstlerischen Freiheit bestand nichts ge­sellschaftlich Vergleichbares. Auch wenn es Vergleichbares gegeben hätte, ließe sich mit Verweis auf eine gesellschaftliche Gruppe keine Legi­timation verlautbaren, es sei denn man befürwortete eine Phrase wie: die machen das auch! Das Besondere an dem Verhalten der Autoren war, dass sie sich nicht mehr als Kleinbürger sahen, sondern als Künst­ler entdeckten und feierten, frei von Stand. In dieser Position waren sie unbestreitbar ausgeliefert, geradezu prädistiniert für Anwendungen von äußerem Zwang; diese Gefahr hat nichts Heroisches, noch schränkt sie das Erreichte ein. Es lohnt sich genau hinzusehen.

„Ich kenne nichts Ärmer’s
Unter der Sonn’ als euch Götter.
Ihr nähret kümmerlich
Von Opfersteuern
Und Gebetshauch
Eure Majestät
Und darbtet, wären
Nicht Kinder und Bettler
Hoffnungsvolle Toren.


Ich dich ehren? Wofür?
Hast du die Schmerzen gelindert
Je des Beladenen?
Hast du die Tränen gestillet
Je des Geängsteten?
Hat nicht mich zum Manne geschmiedet
Die allmächtige Zeit
Und das ewige Schicksal,
Meine Herrn und deine?



Hier sitz’ ich, forme Menschen
Nach meinem Bilde,
Ein Geschlecht, das mir gleich sei,
Zu leiden, weinen,
Genießen und zu freuen sich,
Und dein nicht zu achten,
Wie ich.“

[Gedicht „Prometheus“, Goethe, J. W., 1982, S.44-46.]

Die Hymne ist derart bekannt und der Name Goethe in so vielen Nebensätzen beheimatet, dass ich schon erwog, das Gedicht gar nicht zu zitieren. Zurückhaltung wäre angebracht. Doch wird nicht selten gerade vor dieser Hymne wie vorm mittelalterlichen Teufel gescheut. Meine Zweifel verfliegen! Die Form ist Ausdruck, etwas Einmaliges, ist ohne den Text verloren, nichts. Ähnlichkeiten zu Historischem, zu antiken Oden be­stehen, doch ist die Metrik der Hymne nicht Teil einer For­mensammlung, aus der sich Goethe hätte bedienen können.
Im Kontext der großen Hymnen wird gemeinhin über freie Rhythmen gesprochen, u.a. in Differenz zu freien Versen. Diese literaturwissenschaftliche Einteilung führt jedoch zu logischen Problemen. Wagenknecht trifft mit Bezug auf freie Versgestaltung folgende Unterscheidung. „Diese Gedichte knüpfen frei an wechselnde Muster der herkömmlichen Versdichtung an - im Unterschied zu den Freien Rhythmen also nicht allein oder vor allem an die klassischen Odenmaße.“ (Wagenknecht, Ch., 1981, S.101.)
Simples Unverständis betrifft die Metapher: knüpfen frei an. Im Fall von zu vergleichenden Texten ist relevant, ob es sich um eine tradierte oder eine einmalige Metrik handelt. Schriftstellern, denen Alternativen offen stehen, ist bereits aufgrund der vorhandenen Möglichkeiten ein quantitatives Maß an Freiheit gegeben; sie knüpfen stets ‚frei‘ an. - Oder ist ein Kneipenbesucher, der 15 Pils und 5 Schnäpse trinkt freier als einer, der 10 Pils trinkt? Allenfalls dem schwammigen Gefühl nach. Wagenknecht schaut zu sehr auf seinen Bau­kasten. Er sieht, dass die Hymnen primär Ähnlichkeiten zu Oden aufweisen, und dass manche andere Texte viel­seitigere Vergleiche erlauben. Die Frage, ob Verse frei sind, kann sich aber nur auf ein grundsätzliches Verhältnis zur Tradition beziehen: entweder wird eine alte Form genutzt, oder eine neue, einschließlich möglicher Ähnlich­keiten, ge­schaffen.
Goethes Text „Prometheus“ besteht aus freien Versen, hat eine einmalige Form, die nichts als Ausdruck ist. Dieser Ausdruck kann allerdings befremden. Manche wehren sich angesichts des Tons, der durch den Verbund von Metrik und Sprache ins Gehör dringt, gegen lästerliche Hybris. Wenn schon relative Autonomie der Form nach ergriffen wird, muss dann nicht der Ton erschreckt oder wenigstens zaudernd ausfallen?

Die Auswahl der Strophen erfolgte unter der Maßgabe, hinreichende Verweise zur Interpretation der letzten Verse geben zu können. Mich interessieren Antworten auf fol­gende Fragen. Was geschieht zentral in der Welt, über die Prometheus spricht? Und schließlich: Wer ist Prometheus innerhalb dieser Welt? Wenn ein Text eine Person und sein Umfeld hinreichend beschreibt, kann sogar auf eine wis­senschaftliche ‚Hermeneutik‘, auf eine linguistisch verglei­chende Analyse verzichtet werden.
Zur Demonstration vertausche ich den singulären Term: ich spreche über diesen sonderbaren ‚Kerl‘. Dieser verrückte Kerl formt nach seinem Bilde Menschen, Per­sonen, die ihm gleich sind. Die Phrase nach seinem Bilde wird durch die Worte ihm gleich erläutert. In Bezug auf die hebräische und von den Christen als altes Testament an­nektierte Bibel wird eine zweifache Kritik geübt: (a) Gott bleibt außen vor, (b) die Phrase, die einen anderen Bezug aufweist, somit eine andere ist, fällt im Vergleich deutlicher aus. Die Worte ihm gleich werden ebenfalls erläutert. Un­befangenheit von Gott. Er zählt Verhalten auf: leiden, weinen, genießen, sich freuen, schließlich Gott nicht zu achten. Das geformte menschliche Leben ist unabhängig von Gott.
Geschieden ist diese geformte Welt von einer, in der hoffnungsvolle Toren vorkommen, die mit Opfersteuern und Gebetshauch um Abbitte und den Einzug ins jenseitige Paradies flehen. Für die Personen der präferierten Welt gilt, was auch der Kerl über sich preis gibt: allmächtige Zeit und Schicksal haben ihn erwachsen werden lassen. Neben einer mög­lichen Missinterpretation homerischer Texte dürfte hoch­speku­lative Naturphilosophie zur Abfassung der Verse ver­holfen haben. Weiterreichendes muss an dieser Stelle nicht ge­äußert werden.
Die anvisierte Gleichheit bezieht sich nicht auf das Formen. Der Kerl, käme er in der geformten Welt vor, wäre dennoch nur eine Person neben anderen. Doch kann die präferierte Dichterwelt in relativer Unabhängigkeit zur Empirie ge­sehen werden, oder ist Abhängigkeit zu konstatieren, so dass die Phrase nach meinem Bilde überzogen wäre? Diese Frage gründet auf einem Missverständis: zur Phrase gehören nicht die biblischen Worte ‚aus nichts‘. Berücksichtigt man die oben wiedergegebenen Erläuterungen, die der Kerl seinen Lesern gibt, dann entfällt zumindest der moralisierende Verdacht auf Hybris. Verse und Bibelstellen sind aufgrund der Be­züge different, was einige tröstlich stimmen mag.
Untröstlich stimmt jedoch manche der Verdacht auf relative Unabhängigkeit von Empirie. Das vom Kerl geschilderte Verhalten der Menschen ist doch ganz und gar empirisches Verhalten, quasi eine Verdopplung. Geht man diffe­ren­zierter vor, löst sich auch dieses Problem auf: Aussagen über Empirisches haben entweder Bezug oder nicht. Die Frage danach wäre aber im Hinblick auf Belletristisch geformtes unerheblich, nicht nachprüfbar. Relevant könnte sein, ob das geschilderte Verhalten als Mögliches betrachtet werden kann und ob es Lesern Aufschluss über Erfahrenes bietet, im Fall des vom Kerl geformten Ver­haltens als Mögliches. Diese Welt ist tatsächlich von der empirischen geschieden. Die Toren sind woanders beheimatet.
Der Text beschreibt eine Entwicklung, die möglich und meiner Einschätzung nach sehr interessant ist: einen Weg zu künstlerischer relativer Autonomie. Dass Goethe später diesem Text einen mystischen, „Ganymed“, aus der gleichen Zeit zur Seite stellte, „Prometheus“ als jugendlich leichtsinnigen abschwächte, lässt vermuten, dass er im Sturm und Drang eventuell die Tragweite verkannte, besonders für sein späteres Leben am fürstlichen Hof.


VI

In der jüngeren Literatur gibt es wenige ermutigende Schritte, Sprache und Form neu zu entdecken, um eine Distanz zur Tradition als auch zur Umgangsprache aufzubauen. Zwei Autorinnen seien hervorgehoben: Ann Cotten (aktuell: „Der schaudernde Fächer“) und Karen Köhler (aktuell: „Wir haben Raketen geangelt“). Die Welten, die sie erschreiben, sind zwar kaum von gesellschaftlicher Relevanz, um dies zu können, wäre ein umfangreicheres Wissen erforderlich, das in jungen Jahren noch nicht ausgebildet sein kann, aber Literatur als sprachliches Abenteuer zu präsentieren, gelingt beiden Autorinnen. Cottens Sprache glänzt durch ungewöhnliche Diktionen, Bilder, Metaphern - und eine rotzfreche Bemerkung in Richtung Musil -, Köhlers Prosa, die der Verlag als Erzählungen verkauft, durch die eingearbeiteten Brüche aber weit mehr ist, lassen hoffen. Ich bin sehr auf weitere Entwicklungen gespannt.



Literatur

Bachmann, I., 1983, Sämtliche Gedichte, München.

Bachmann, I., 1984, Frankfurter Vorlesungen: Pro­bleme zeitgenössischer Dichtung, München.

Benjamin, W., 1974, Über den Begriff der Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt a.M., S.691-704.

Brecht, B., 1967, Schriften zur Literatur und Kunst, Bde. 2 u. 3, Frankfurt a.M.

Brecht, B., 1984, Die Gedichte von Berthold Brecht in einem Band, Frankfurt a.M.

Brinkmann, R. D., 1980, Standphotos, Gedichte 1962-1970, Reinbek bei Hamburg.

Friedrich, 1985, H., Die Struktur der modernen Lyrik, Reinbek bei Hamburg.

Goethe, J.W., 1982, Gedichte, hrg., kommentiert u. neu bearb. v. E.Trunz, München.

Grass, G., 1979, Der Butt, Frankfurt a.M.

Hahn, U., 1981, Herz über Kopf, Stuttgart.

Horaz, 1985, Sämtliche Werke, München.

Wagenknecht, Ch., 1981, Deutsche Metrik, München.

Wittgenstein, L., 1984, Philosophische Untersuchungen, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a.M., S.225-618.

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Mein Beitrag für den im Herbst erscheinenden Band: Diabolus. Essays über Künste, hg. v. K. Talmi (AutorenVerlag Matern)

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