Mittwoch, 13. August 2014
Siechenhaus (XIII)
XXIV

… Lieben Dank für die nette Unterstützung, aber können Sie den Vorhang aufziehen? Dies war ein Test. Wir hatten zu prüfen, ob die Verdunkelung für die Projektion ausreicht. Konnten Sie alle etwas sehen? Ja? Wunderbar! Ich warte noch auf eine telefonische Rückmeldung aus der Knochenstation. - Aahh, da sind ja beide. Und Sie können sogar gehen!

Wie ungeschickt, und rabiat. Erst fällt er, dann schlägt er um sich. Hab ich ein blaues Auge? Aber er hat sich ja selber wehgetan. Sie setzen sich nicht neben mich! Haben sie gehört?

Ich kann mich bloß nochmals entschuldigen. Bin abgerutscht. Ich versteh das selber nicht. Es tut mir sehr leid.

Der Schrecken war größer als die Verletzungen. Wir humpeln zwar beide etwas, doch gebrochen ist nichts. Haben sie noch Sitzplätze für uns, am besten an verschiedenen Seiten?


XXV

Uns fehlt leider ein Medienzentrum, ebenso ein bequemer Kinosaal. Wenn unser Alten- und Pflegeheim genehmigt und errichtet ist, vielleicht können wir Ihnen den gesamten Komplex in einem Film präsentieren. Und Sie hätten es gemütlich wie zu Hause, wären aber in Gesellschaft. Bis dahin müssen Sie jedoch, nach dem heutigen Unfall, mit unseren Dias Vorlieb nehmen. Wir sind bislang nur ein Klinikum.

Eine Neuropsychiatrie wurde eingerichtet, um klären zu können, ob kognitive Beschwerden physische oder psychische Bedingungen haben. Dies lässt sich von außen nicht abschätzen, ist jedoch die Voraussetzung für mögliche Behandlungen. Typisch fürs Alter sind physisch bedingte Ablagerungen oder Durchblutungstörungen im Gehirn und psychisch bedingte Depressionen.

Als überregional renomiertes Demenzentrum untersuchen wir hier in Duisburg auch besonders schwere Fälle. Die Station kann deshalb nur abgeriegelt betrieben werden. Die Belastung wäre für andere Stationen durch Gedächtnisverluste von Patienten oder krasse Stimmungwechsel zu groß. Patienten, die in OP-Säle eindringen, um ihre Brille zu suchen, oder einen Freund aus Jugendzeiten, der sich dort versteckt habe, die im Flur einen Strip-Tease veranstalten, wie an einem FKK-Strand, oder Leute mit den Worten anfahren, sie hab ich schon mal gesehen, sie Schuft, sind im Betrieb wenig hilfreich. Ich warne jedoch vor Kurzschlüssen. Bekanntheitgrad und Renommee geben keine Auskünfte über Qualität! Eine solche wäre durch Autorität oder Marketingfloskeln gar nicht vermittelbar. Ich betone diesen eventuell unscheinbaren Unterschied, weil er in eine Demenz hineinreicht, die alltäglich ist. - Sie machen uns auf einige weitere Beispiele aufmerksam?

Gerne. Demenz beginnt mit kognitiven Beeinträchtigungen, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken können. Dazu gehören Verwechslungen von Imaginärem und Wirklichem. Imaginäres wie einen Traum wirklich werden zu lassen, ist aus logischer Sicht nicht möglich, auch gar nicht erforderlich, weil Imaginäres, als Imaginäres, längst wirklich wäre. Oder eine Verwechslung von Sprache und Gegenstand: Dass sich eine Idee bzw. ein Begriff verkörpert, klingt vielleicht für manche Assoziation angenehm fließend, wäre jedoch gleichfalls, ohne weitere Zusatzannahmen, verfehlt. Bestenfalls ließe sich fragen, was geraucht wurde. Wenn einfache Differenzierungen entfallen, hat eventuell eine Demenz Einzug gehalten. Zu berücksichtigen wäre, ob relevante Fähigkeiten zuvor erworben wurden.

Danke. Die Alltagerfahrungen dienen als Ausgang für unsere Demenzstudien. Lediglich nach anerkannten Krankheitbildern vorzugehen, wäre uns in der Forschung zu wenig. Uns interessieren graduelle Veränderungen, die vom Alltag bis in ein Stadium reichen, in dem eine Teilnahme an diesem ohne aufwendige Pflege nicht mehr leistbar ist. Ebenso eine gesellschaftliche Zukunft, die durch Demenz gepägt sein wird, ob in Wirtschaft oder Politik.


XXVI

Spannender als unsere Forschungen könnten für Sie eventuell Projekte sein, die von Patienten durchgeführt werden. Leichte Formen von Demenz behindern im Alltag kaum. Auch entwickeln wir Therapien, mit denen sich der Hirnverfall verlangsamen lässt. Patienten bildeten Gruppen, die sogar in sozialen Netzwerken, z.B. bei Facebook aktiv sind. Dort können sie weiter teilnehmen, auch wenn sie nicht mehr im Haus weilen. Sie forschen und schreiben gemeinsam über Themen, die sie ihrer Ansicht nach direkter betreffen. Es entsteht meines Wissens nach ein Traktat vom Liebhaben, in dem ethische Fragen behandelt werden, ebenfalls ein Traktat vom Schönmachen, der ästhetischen Ansprüchen gewidmet ist. Die Zellen zu fordern, ist ein wichtiger Schritt, dem grauenden Alltag entgegenzuwirken.

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Mittwoch, 19. Februar 2014
Das Buch "Analytische Belletristik"
Ende Februar erscheint der Band, der von mir herausgegeben wird, mit Beiträgen von Kathrina Talmi , Reinhard Matern und mir.

Der Verlag schreibt:

"Die Texte vollziehen eine belletristische als auch analytische Auseinandersetzung in Form von Essays und Gesprächen. Im Zentrum stehen Fragen nach künstlerischer Autonomie und Angemessenheit, Fragen nach einer neuen Ästhetik.

Diese Ausrichtung ist nicht nur belletristisch interessant, sondern auch mit Blick auf einen Markt gerichtet, der zunehmend gleichartige, zum Verwechseln ähnliche Bücher produziert, die sich lediglich preislich differenzieren ließen."

Ich wünsche viel Vergnügen!

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Freitag, 7. Februar 2014
Autonomie und Angemessenheit
[Vorschau: "Analytische Belletristik", hg. v. Mark Ammern, Autorenverlag Matern]
I
Worte ‚Autononie‘ haben über Jahrhunderte hinweg zu heftigen Auseinandersetzungen geführt, auch und gerade im Kontext von Worten ‚Kunst‘ oder ‚Künsten‘. Diese Steitigkeiten hängen mit Überfrachtungen zusammen, sowohl im Hinblick auf die Sache als auch emotional.
Zunächst sei betont, dass ‚künstlerische Autonomie‘ in Frage steht, eine von Künstlern in ihrer schriftstellerischen Arbeit. Doch ‚sich selber (auto) ein Gesetz (nomos) bzw. eine Regel (zu) geben‘, um eine Übertragung des altgriechischen «αὐτονομία» anzubieten, weist im vorliegenden Kontext auf eine Relation zu anderen Menschen innerhalb einer Gesellschaft hin. Bestünde diese nicht, wäre eine Betonung von Autonomie nicht erforderlich, es bliebe gar nichts anderes übrig.
Künstlerische Aktivitäten finden in Gesellschaften statt, nicht außerhalb. Es wäre unangebracht, Kunst und Gesellschaft wie zwei imaginäre Gegner gegenüberzustellen, die ein Scheingefecht austragen. Ein Potential für Konflikte ist mit diesem Hinweis aber nicht ausgeräumt: Wie belletristisch zu verfahren sei, lässt sich jemand, der autonom arbeiten möchte, kaum vorschreiben. Dies kann bei der sogenannten Rechtschreibung beginnen, betrifft die Worte und Abschnitte, den Aufbau seiner Texte, als auch die einbezogenen bzw. erfundenen Lebewesen, Gegenstände oder Sachverhalte. Entscheidend ist die Wahl des Schriftstellers bzw. Autors, nicht ein germanistisches oder berufliches, von wem auch immer veranschlagtes Reglement. Mit der autonomen Arbeit können sogar Kriterien übergangen werden, die gesellschaftlichen Gruppen, denen ein offener Zugang fehlt, wie an der Hand geführt erlauben, eine Qualität zu beurteilen. Autonomie stellt systematische Verstöße frei, die unter Künstlern nicht einmal als Widersetzungen empfunden werden müssen, um einem Einerlei zu entkommen, das mit gesellschaftlich verbürgten Qualitätskriterien rasch entsteht. Oder um es provokanter zu formulieren: im Rahmen künstlerischer Autonomie ist es egal, ob ein Text wie dieser, der freilich relativ harmlos ist, bürgerlichen Gesellschaftsmitgliedern gefällt. Aus künstlerischer Sicht ist dieser Kreis, wie manch anderer auch, schlicht belanglos! Dies ist das Moment, in dem Emotionen leicht emporschnellen.
Doch beanspruchbare Autonomie ist historisch relativ: Goethes Figur „Prometheus“ (vgl. Trunz, E., Hg., 1982) wird nicht die Möglichkeit eingeräumt, aus dem Nichts zu schaffen. Eine mythische Figur mit gleichem Schriftzug war geläufig, das griechische Altertum wurde zu jener Zeit gefeiert, Homer und Pindar waren neu entdeckt, Homer sogar zu einem personifzierten Genie erhoben, bereits Klopstock hatte freie Rhythmen dichterisch eingebracht; obgleich es zeitbezogene gesellschaftliche Bedingungen gab, die eine Produktion erleichterten, zeichnet das Gedicht einen individuellen dichterischen Zugang aus.
‚Autonomie‘ ist keine Erlösungsvokabel, sondern weist auf viele konkrete schriftstellerische Hindernisse, die sich macher Kollege gerne vom Leib hält: aus einem Wust an Möglichkeiten, sogar logisch unmögliche inbegriffen, auszuwählen, neu zusammenzufügen, zu differenzieren … um nicht, wie es umgangsprachlich üblich ist, dem verbreiteten gesellschaftlichen Trott zu folgen oder kunsthandwerklich in alte Formen zu flüchten, so hübsch und adrett man sie auch finden mag. Eine relevante Erlösung wäre, auf Autonomie zu verzichten, Standards zu folgen oder schlicht eine hypothetische oder bestehende Nachfrage zu befriedigen.
II
Es wäre aussichtslos, Worte ‚Kunst‘ und ‚Künstler‘ allgemeinverbindlich definieren zu wollen. Nicht nur ist die Umgangsprache äußerst reichhaltig an Worten ‚Kunst‘, weist viele unterscheidbare Bezügsumfänge auf, die Ansicht, mit einer simplen Definition gelänge etwas Relevantes, würde die historischen und gruppenspezifischen Ausprägungen außer Acht lassen. Besonders seit der umfassenden Universitäts- und Studienreform hat sich eine Definitionsgläubigkeit breit gemacht, die der wirtschaftlich motivierten Verschulung geschuldet ist. Um dieser Entwicklung zu entgehen, hat Kathrina Talmi angeboten, Philosophie den Universitäten und der staatlichen Kontrolle zu entziehen, sie als eine ‚Kunst‘ zu deklarieren, ohne auf die speziellen Arbeitsweisen zu verzichten (vgl. Talmi, K., 2014, S.93). Eine autonome Haltung ist auch in der Philosophie unerlässlich, um diese weiterentwickeln zu können. Eventuell würde dem Literaturbetrieb anzuraten sein, von den universitär eingeführten Kursen des kreativen und literarischen Schreibens Abstand zu halten.
In der Einleitung hatte ich mit Bedacht eine Differenzierung in Kunst und Umgang vorgenommen, um Worte ‚Kunst‘ bzw. ‚Künste‘ sprachlich erst zu ermögliche. Ohne Differenzierung könnte von Künsten, auch von Produkten Literatur, keine Rede sein. Die Tätigkeiten und Erzeugnisse gingen im Alltag unter, wären kaum einer gesonderten Beachtung wert, vergleichbar mit einem Nachbarschaftsgespräch, einem Familienstreit oder einer von Murren begleiteten Sicherheitskontrolle auf einem Flugplatz. Bieten fragliche Texte jedoch mehr als es im Umgang situativ möglich wäre, ist eine separate Bezeichnung angebracht. Dies ist nicht neu, geschieht seit dem Altertum, sei dennoch erläuternd angeführt.
Nach einer ersten Befreiung von religiöser Bevormundung in der Renaissance, bereitete die Aufklärung den Künstlern eine Autonomie, indem nicht nur Talent und angestrebte Natürlichkeit in den Vordergrund rückten, sondern auch eine Selbstbestimmung in der künstlerischen Tätigkeit. Diese sachliche Schlichtheit, die relativ vielen Menschen geläufig sein wird, jedoch nicht allen etwas sagt, wäre durch gespuckte Vokabeln wie ‚Selbstverwirklichung‘ oder ‚Narzissmus‘ zu verunglimpfen? Wäre es hingegen befürwortbar, gesellschaftlich als Anstalt aufzutreten, ob moralisch oder sozialistisch? Altgediente Oberlehrer wären entzückt! Auch Lehrkörper haben sich entscheiden, eine Wahl treffen müssen, sich mit dieser auf ein Publikum ausgerichtet - und auf eine Aufgabe, die fortan den Freiraum einschränkt, dem Leben einen Sinn gibt, in dem man anderen erläutert, worin ihr Sinn besteht. Man rückte pädagogisch in scholastische Tradition.
Bei jungen Menschen kann die Frage aufkommen, welchen Sinn man dem eigenen Leben geben möchte. Meiner Beobachtung nach wird ‚Sinn‘ als Aufgabe gefasst, als Aufgabe in der jeweiligen Gesellschaft. Dieses konkrete Bedürfnis, das mit der Aussicht, die Familie verlassen zu müssen oder zu wollen, drängender wird, ist von ihnen nicht leicht zu beantworten. Und die quälende Freiheit reduziert sich in der Frage leicht auf die Wahl. Ob eine Tätigkeit dazugehört, die autonomes Handeln einräumen könnte, wäre nur ein besonders spezieller Fall. Und ist eine Wahl getroffen, bestimmt sie zumeist den Rest des Lebens … Es muss nicht wundern, dass ‚Autonomie‘ für viele Menschen ein Fremdwort ist, auch in derzeitigen westlichen Gesellschaften.
Zur Unmöglichkeit von Kunstdefinitionen haben vor allem Künstler beigetragen: Provokationen begannen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und sind noch in neuerer Zeit spürbar. Die Ausrichtungen waren vielfältig, ob Dada, PopArt oder Aktionskunst. Gemeinsam war ihnen, eine bildungsbürgerliche Debatte zu überschreiten, in der Bedingungen festgelegt worden waren, die ein Werk zu erfüllen hätte. Das künstlerische Vorgehen betonte die Autonomie, die auch dazu führen konnte, wie im Fall Warhol, Kunst als Business zu betreiben, weil der Kunstmarkt und dessen Akteure exaltiert reagierten. - Doch sobald aus Provokation eine Mode wird, verliert sich die Spitze. Als in jüngerer Zeit, während eines Festivals Neuer Musik, auf der Bühne eine Kuh präsentiert wurde, blieb kaum mehr als ein müder Spaß und Mitleid mit dem Tier. Ohne historische Vorgehensweisen einzubeziehen, wird man keine Kunstdebatten führen können.
III
Bislang ist von mir ‚Autonomie‘ ausschließlich auf künstlerische Arbeit bezogen worden, nicht auf die Produkte oder gar auf Künste als Sammelbegriff unterscheidbarer Disziplinen, ihrer Produkte und Märkte. Sprachlich wäre eine fragliche Bezeichnung von Kunstwerken auch gar nicht möglich: Nicht die Kunstwerke bilden Regeln oder improvisierte Prozesse aus, sondern die Künstler. An den Resultaten lassen sich zwar Grade ablesen, doch auch diese hätten sich primär auf die eingebrachte Arbeit zu beziehen, die man gar nicht verfolgt hat. Erst ein Vergleich mit Resultaten anderer Künstler lässt eine individuelle Handschrift erkennen.
Für eine Ästhetik würde die Frage nach einer solchen Handschrift jedoch nicht ausreichen. Die Produkte umfassen mehr. Kathrina Talmi hat in „Jenseits des Absoluten“ vorgeschlagen - enthalten im vorliegenden Band -, nach Angemessenheit zu fragen, in Relation zu inneren als auch äußeren Parametern, die einen Vergleich gestatten. Mit diesem Kriterium geht es unumwunden um die Sache, nicht um ein Gefühl. Es mag sein, dass auch Gefühle entstehen, eventuell sogar aufwallen, doch sie taugen aus empirischer Sicht für eine Beurteilung nicht.
Sie geht den rationalen Laborbedingungen, die Kant experimentell geschaffen hatte, leichthin aus dem Weg. Dies ist nachvollziehbar, berücksichtigt man das emotionale Sprachverhalten von Menschen: Kants Differenzierung in Angenehmes, Schönes und Gutes kann nicht einfach vorausgesetzt werden, ebenso nicht eine Aussonderung von möglichen Begehrlichkeiten und Interessen, bis ein Schönes rein erstrahlt. Probanden hätten Störfaktoren auszublenden, die auf Informationen und Einstellungen beruhen, bis ein hypostasiertes Wohlgefallen übrig bleibt. Zur Unterstützung ließen sich eventuell Hirnbereiche der Probanden deaktivieren oder zumindest lahmlegen, die eine Äußerung „schön“ behindern. Doch es würde sich die Frage stellen, auf was sich das Geschmacksurteil dann noch beziehen könnte, wenn als schön gilt, „was ohne Begriff allgemein gefällt” (vgl. B 32), ohne allgemeine Geltung haben zu müssen.
‚Ohne Begriff‘ kann deutlich machen, dass es sich bei relevanten Gegenständen, die Anlass zu einer Äußerung „schön“ geben, nicht um Kunstprodukte handeln muss. Nicht einmal eine Form wäre begriffslos zu fassen. Eine solche Situation wäre am ehesten experimentell zu erzeugen, wenn man die Probanden überwältigt bzw. wenn sie sich überwältigt fühlen, z.B. bildhaft, klanglich. Es gibt solche Momente, auch im Alltag, in denen Menschen spontan „schön“ äußern, doch um was geht es dabei? In Überraschungsmomenten wird, um auch derzeitige Vorkommnisse einzubeziehen, ebenfalls „boah“ geäußert, oder „geil“, machmal auch „scheiße“, wobei letzteres keineswegs negativ gemeint sein muss. Wird eine spontane Äußerung „schön“ innerhalb von Kants Ästhetik nicht völlig überbewertet?
Diese ausweglose Situation, die vielleicht durch Herkunft und Erziehung etwas aufbereitet werden könnte, gibt sie im Hinblick auf Kunstprodukte dennoch Deutungsmöglichkeiten? Weil ein Geschmacksurteil „schön“ sachlich an nichts gebunden ist, ließen sich deshalb „in schöner Kunst hässliche Dinge schön beschreiben“, soweit nicht Ekel erzeugt wird (vgl. B 188 f.)? Hässlichkeit als auch die Grenze, die Kant mit ‚Ekel‘ bezeichnet, werden nicht mit Hilfe von Geschmacksurteilen näher gefasst. Doch Kant greift zu kurz: Schönheit und schön sind keine Eigenschaften von Gegenständen, dies ist der zentrale Befund der Laborprozedur. Übrig bleiben lediglich Empfindungen, was immer diese zum Ausdruck bringen mögen. Vielleicht ließen sich diese Äußerungen am ehesten mit dem zahnlosen Glucksen oder Quäken eines Kleinkindes vergleichen. Zudem ist ersichtlich geworden, dass Emotionsäußerungen historisch abhängig sind.
IV
Um eine Angemessenheit beurteilen zu können, ist eine Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Gegenstand, z.B. einem Text, erforderlich. Ohne relativ umfassende Sachkenntnisse bleibt man als Urteilender außen vor. Bezug zu nehmen wäre sowohl auf die künstlerischen Mittel als auch auf die angeschlagenen Themenbereiche, und dies in Relation zu anderen Produkten. Eine Frage nach Angemessenheit wäre die nach einem Resümee.
Ein solches Resultat kann nicht allgemeinverbindlich ausfallen, sondern ist abhängig von den berücksichtigten Lesarten und sonstigen Parmetern, die einbezogen worden sind. Dies mag peinigen, weil die immense Arbeit nichts einzubringen scheint, nichts weiter als eine individuelle Ansicht. Bestenfalls. Denn Urteile können epigonenhaft ausfallen. Auch Rezipienten eröffnen sich gestalterische Möglichkeiten und ein individueller Zugang.
Beide Seiten, Künstler als auch mögliche Rezipienten, hätten sich eine Ästhetik des jeweiligen Textes zu arbeiten, eine Ästhetik, die primär auf den gebildeten bzw. eingeschätzen Relationen der künstlerischen Produkte beruht. Ob dabei Geschmack empfunden wird und welcher, ist nicht von Belang. Gleichwohl werden Emotionen durchschlagen, wohlmöglich akzentuiert, als eingesetztes Mittel, doch als Kriterien würden sie nicht taugen.


Literatur

* Trunz, E., Hg., 1982, Prometheus, In: Goethe - Gedichte, hg. v. dems., München, S. 44-46.
* Kant, I., 1983, Kritik der Urteilskraft, in: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, Werke, Bd.8, Darmstadt, S.237-620.
* Talmi, K., 2014, Über Ethiken und Gesellschaften, in: Analytische Philosophie? hg. v. Pege, K., Duisburg (PDF), S. 89-101.

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Ein Link zu Kathrina Talmis Essay "Jenseits des Absoluten".

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Sonntag, 2. Februar 2014
Einleitung
[Vorschau: "Analytische Belletristik", hg. v. Mark Ammern, Autorenverlag Matern]

Die Kritik am derzeitigen Literaturbetrieb ist nahezu umfassend geworden: Sie betrifft die Themen der Texte, z.B. eine Konzentration auf Familiengeschichten (vgl. Schröder, Ch., 2014), die nicht nur durch ihre Häufigkeit langweilen, sondern auch durch ihre gesellschaftliche Belanglosigkeit. Familiäre Verwicklungen in die Zeit des Nationalsozialismus oder des DDR-Sozialismus ließen Familienromane in der Nachkriegs- bzw. Nachwendezeit plausibel erscheinen, ebenso weitaus früher verfasste Romane über ein dynastisch organisiertes Bürgertum, das zwar gesellschaftlich herrschte, doch die übernommene Verantwortung nicht tragen konnte. Fehlen solche gesellschaftlich relevanten historischen Komplexe, werden Familiengeschichten zu beliebigen Erzählungen, die bestenfalls in ein Album gehören, nicht jedoch in ein öffentlich präsentierbares Buch.

In Bezug auf Themen plädiert Enno Stahl für einen Sozial-Realismus in der Literatur, der die Besonderheiten entstandener gesellschaftlicher Verwerfungen berücksichtigt, auch das Prekariat (vgl. Stahl, E., 2013). Und er scheut nicht davor zurück, eine Funktion anhand beschriebener Lebensumstände und Figuren in Aussicht zu stellen, die Zurückgewinnung von Individualität und Identität in der Auseinandersetzung: eine sozialistisch inspirierte Vorbildfunktion. Gegen eine literarische Berücksichtigung gesellschaftlich relevanter Faktoren wäre überhaupt nichts zu sagen, falls denn Autoren eine solche Wirklichkeit aus Erfahrung kennengelernt haben, doch die Einbindung von Literatur in ein politisch inspiriertes Programm belässt nicht nur Sprache unter ihren Möglichkeiten, sie legt ein durchschnittliches Verhalten an: z.B. die des neuen Lumpenproletariats, um es letztlich mit einer Wendung ins beanspruchte Ideal teleologisch zu überhöhen.
Ich möchte eine Diskussion von Themen gar nicht weiterführen, weil sie den Blick zu sehr einengt. Einer Sensibilisierung von Autoren in Bezug auf gesellschaftlich relevante Texte wäre nichts entgegenzusetzen, doch die Spannweite einer literarischen Motivation kann weiter reichen, als es eine Funktionalisierung erlauben würde.

Mich irritiert am Literaturbetrieb, dass Verlage und Kritik in den letzten Jahrzehnten überwiegend literarische Standards bevorzugt haben, die auf eingängige Geschichten, also auf einen überschaubaren Plot setzten, auf Durchschnittsfiguren und auf eine durchschnittliche Sprache, die nach Vorgabe einer kriselnden Branche, in der alles, Texte, Preise, Stipendien, was auch immer, nur einem zu dienen hat: einer Verkaufshow, auf welchem Sender, in welchem Blatt, auf welcher Internetseite auch immer. Was durch die schnellebige Medienlandschaft nicht rasch zu vermitteln ist, entfällt. Dies sind die Minimalstandards von Kitsch, sähe man davon ab, dass noch eine Suhle fehlen würde.
Aktuelle Ausnahmen wie „Gewäsch und Gewimmel“ (Brigitte Kronauer), „Arbeit und Struktur“ (Wolfgang Herrndorf ) oder „Der schaudernde Fächer“ (Ann Cotten) zeigen, dass es literarisch auch anspruchsvoller zugehen kann. Die SchriftstellerInnen gehören unterschiedlichen Generationen an, arbeiten bzw. arbeiteten auch unterschiedlich, dennoch eint sie, wenn auch aus verschiedenen Gründen und in differenter Weise, ein individueller Zugang zur Literatur. Erstaunen kann hingegen, dass innerhalb der Kritik wieder jene Standards angelegt werden, die zu literarischem Ramsch führten: der Erzählerin von „Gewäsch und Gewimmel“, einer Physiotherapeutin, wird spekulativ abgesprochen, das sprachliche Kunstwerk erschaffen zu haben. Dazu bedürfe es eines gottgleichen Erzählers. (Vgl. Jessen, J., 23.11.2013). Diese Fixierung auf gesellschaftlich durchschnittliches Verhalten lässt Literatur verkommen, auch wenn man die Passage als Lob an der Autorin missverstehen könnte.

Literarisch wäre es nicht erforderlich, sich an Typisches oder Durchschnittliches zu halten, das entweder durch vielfache Lebenserfahrungen oder durch soziologische Studien abgesichert werden könnte. Wer danach sucht, interessiert sich nicht für Literatur, sondern für eine simple Bestätigung, für eine Spiegelei von Horizonten, seien sie auch äußerst eng und dürftig. Doch Literatur kann aus dieser gesellschaftlichen Funktionalisierung ausbrechen, innerhalb als auch außerhalb des Betriebs.
Um den traditionelle Literaturbetrieb erfassen zu können, wäre die Anfertigung eines Modells wenig hilfreich. Würde man germanistisch, soziologisch oder kulturwissenschaftlich auf Autoren, Agenten, Verlage, Kritiker, Medien, Händler und ihre jeweiligen Aufgaben und komplexen Abhängigkeiten einen schematischen Blick werfen, wäre der empirische Gehalt äußerst gering. Den Betrieb machen letztlich die persönlichen Kontakte aus, die informellen. Sind diese im Laufe eines Autorenlebens oder einer Verlagstätigkeit nicht entstanden, bleibt ein Zugang verwehrt. Durchaus wäre eine Markttägkeit möglich, sogar in einer Branche, bezeichenbar als ‚Literatur‘ bzw. ‚Buch‘, doch nur außerhalb des Betriebs.
Der Weg, Kontakte entstehen zu lassen, wurde in der Zeit meiner Anfänge häufig als ‚Ochsentour‘ ausgewiesen, weil hierarchische Strukturen zu überwinden waren: von den ersten Veröffentlichungen in lokalen Blättern bis hin zu Publikationen in einem angesehenen Verlag. Wer mit seinen Texten nicht den jeweiligen Geschack traf, wessen Texte z.B. einer emphatischen Wahrheit widerstanden, nicht für ein gutes Buch taugten, um zwei prominente Phrasen des ehemaligen Hanser-Verlegers Michael Krüger anzuführen, blieb außen vor.
Diese verlegerische Gate-Keeper-Funktion hatte in Deutschland stets auch etwas Ideologisches: Sie war orientiert an gesellschaftlich in Mode gekommenen Philosophien. Besonders hervorhebbar sind meines Erachtes die Texte von Walter Benjamin, mit etwas Abstand auch die von Ernst Bloch und manchen anderen. Im Laufe der Geschichte richteten sich einige philosophische Interessen nach Frankreich aus, oder widmeten sich einem radikalen Konstruktivismus, der gerade Recht gekommen war, um die Welt marketingwirksam neu zu erfinden. Solange man als Autor die jeweils gesteckten ästhetischen Rahmen unangetastet ließ, stand einem Kontaktaufbau kaum etwas im Wege. Doch analytische Philosophie? Und eine, wie man mir zugestand, bisweilen sprachliche Brutalität, zumal in Dichtungen? Mit dem dahergelaufenen Kerl war kein gut-bürgerliches Buch zu machen. Alles an ihm verdarb den Appetit.
In diesen Zusammenhang passt eventuell eine rezeptionsästetische Distanz, auf die Robert Jauß hingeweisen hat, auf die „Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk, dem schon Vertrauten der bisherigen ästhetischen Erfahrung und dem mit der Aufnahme des neuen Werkes geforderten «Horizontwandel».“ Bei einer Verringerung dieser Distanz, führt er weiter aus, „nähert sich das Werk dem Bereich der ‚kulinarischen‘ oder Unterhaltungskunst.“ (Vgl. Jauß, R., 1967, S. 177). Das Kulinarische an einem Buch, das unterhaltende Moment, der bürgerliche Genuss ist nur empfindbar, wenn bei der Aufnahme keine Herausforderung entsteht.
Ich muss einräumen, dass mir Geschmack ziemlich egal ist, philosophisch als auch belletristisch. In beiden Fällen lehne ich es ab, einen Vergleich mit einem Essen zu gestatten, weil andere Organe betroffen sind. Es mag sein, dass ein Lesen von einem Magendrücken begleitet wird, in Deutschland geht der Umgangsprache nach relativ vieles durch den Magen, doch falls Texte oder gar Bücher in Mägen landen würden, wäre bei der Aufnahme etwas schief gelaufen. Der rezeptionsästhetische Vergleich mit Kulinarischem ließe sich allenfalls noch als sozialpsychologischer bezeichnen, kaum einer weiteren Rede wert, allenfalls für ein Konsumgütermarketing!

Eine ästhetische Alternative wäre erforderlich, in deren Zentrum künstlerische Autonomie zum Tragen kommt, weit davon entfernt, sich bürgerlich, politisch oder durch ein vermeintliches ‚L’art pour l’art‘ vereinahmen zu lassen.
Diese Ausrichtung bereitet aufgrund umgangsüblicher zweckrationaler Orientierungen leicht Verständnisschwierigkeiten. Autoren und Verlage veröffentlichen für „meine“ oder „unsere Leser“, für „gesellschaftliche Veränderung“, für „ein professionelles Einkommen“, für „einen gesellschaftlichen Rang“ bzw. „Status“, für eine religiös anmutende …, doch Kunst ist nicht für. Die erhoffte Orientierung ginge fehl. Würde eine Differenzierung von Umgang und Kunst angestrebt werden, um Kunst überhaupt erst sprachlich zu ermöglichen, entfiele Zweckrationalität. Wie Kunst gesellschaftlich verwendet wird, ob zur Präsentation, zur Bildung, zur Kritik, zum politischen Kampf oder zur drogenverdächtigen Beweihräucherung bürgerlicher Schichten, wäre eine völlig andere Frage, am wenigsten eine ästhetische.
Die mit dem vorliegenden Band präsentierte analytische Belletristik maßt sich nicht an, Philosophie zu verdrängen, doch der Begriff kann verdeutlichen, dass der Einfluss aus der analytischen Philosophie (vgl. Pege., K., Hg., 2014) größer ist als aus einer tingelnden oder konservierenden Germanistik, die nach Meta-Orientierung sucht. Auch wird nicht angestrebt, die Germanistik zu ersetzen - die Essays und Gespräche des Bandes vollziehen lediglich einen Schnitt.


Literatur

* Jauß, R., 1967, Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft, Konstanz.
* Jessen, Jens, 23.11.2013, Dem Kosmos so nahe (Zeit-online).
* Pege., K., Hg., 2014, Analytische Philosophie? (eBook) Duisburg.
* Schröder, Ch., 09.01.2014, Im Abgrund ist’s gemütlich (Zeit-online).
* Stahl, E., 2013, Diskurs-Pogo. Über Literatur und Gesellschaft, Berlin.

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