Freitag, 18. November 2016
Die Zäsur
Mit etwas Glück befindet sich die Buchbranche im Beginn von Entwicklungen, die noch gar nicht absehbar sind. Technisch und literarisch. Beide Richtungen könnten unabhängig voneinander sein. Das mögliche Gemeinsame wäre allenfalls abstrakt, eventuell derart abstrakt, dass es über angebbare Traditionsbrüche nicht hinauskommen wird. Technisch wäre meines Erachtens die digitale Darstellung von Schrift und von relevantem Design in Readern, ein Design, das Schrift sogar nahezu unleserlich machen könnte, aus groben Anfängen hinauszuführen, literarisch die industriellen Fabrikgelände mit ihren standardisierten Warenformen zu verlassen. Doch beide Einschätzungen führen lediglich Möglichkeiten an. Für manche Branchen-Insider sind die Phasen der digitalen und literarischen Entwicklungen bereits abgeschlossen, die Branche unter der gesellschaftlich neuen Macht von Games zu sterben bereit.

Die Suche nach Geschäftsmodellen, die lediglich kurzfristige und vor allem vertriebliche Entwicklungen zulassen, verstellen mögliche Perspektiven. Veraltete Modelle lassen Hilferufe an die Politik vernehmen, im Namen einer Kultur, von der niemand anzugeben vermag, um was es sich handelt. Gesellschaftlich kann es wie ein breitflächig angelegtes Untergangsszenario wirken, das aus einer inständigen Bewegungslosigkeit, einer eingesetzten Starre resultiert. Mehr als ein sanfter Aufschub des Todes wäre in dieser Weise nicht zu erringen.
Was ist gegen einen Zusammenbruch der Branche einzuwenden, in der die Sparte Literatur kaum noch vertreten ist? Vielleicht hat das Bürgertum ausgedient, in der die Branche anwachsen konnte, weil Literatur als Spiegel der Gesellschaft gefiel und gleichsam normiert wurde. Je mehr von spiegelhafter Kultur gesellschaftlich die Rede war, um so stärker wurde die Kunstsparte vernachlässigt. Inzwischen ist eine literarische Kunst gesellschaftlich weitgehend unbekannt. Sie taugt wenig fürs Geschäft, reizt allenfalls zu einem ergiebigen Kotzen.

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Donnerstag, 17. November 2016
E-Books und Stromgeister
Viel wurde über eBooks in den vergangenen Jahren spekuliert, vor allem von Nicht-Literaten. Dies mag aus pragmatischer Sicht interessant sein, literarisch blieb dies völlig unerheblich. Der Einsatz von Html und CSS, von zwei Auszeichnungs-, nicht von Programmiersprachen, die innerhalb des inzwischen üblichen ePub 2.01 Anwendung finden, einer Konvention, die eine Darstellung primär von Schrift in sogenannten Readern erlaubt, war und ist seit den Neunziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts im Internet bekannt. Relativ neu, aus zeitlicher Perspektive, ist lediglich die vereinheitlichende Konvention, die als zukünftiger Industriestandard speziell für Lesegeräte entwickelt wurde, jedoch nur begrenzt Eingang fand. Die Gerätehersteller interessierte wahrscheinlich ein mögliches Geschäft mehr als die Frage, womit ein solches zu vollführen sei. Ein Kundenkreis war durch technische Spezifikationen des lesbaren ePub nicht zu gewinnen. Kunden als auch Tester interessierte, wie sich die Geräte anfühlen. Der begonnene Handel blieb weitgehend auf dem Niveau von fahrenden weißen Händlern und Indianerstämmen, die im amerikanischen Westen aufeinandertrafen: das erstaunte Raunen oder Ausrufen von „Manito“ war z.B. tauschentscheidend.

Überschriften und Absätze waren erkennbar, wie von Geisterhand erzeugt, solange eine Stromzufuhr erfolgte. Die Stromgeister passten die sichtbare Schrift an die Größe der jeweiligen Bildschirme an. Es gab keine vorab festgelegten Zeilenlängen. Solche Anweisungen hätten die fremden Wesen nicht lesen und verstehen können. Sie waren Pragmatiker, die den jeweils zur Verfügung stehenden Raum nutzten. Auf unterschiedlichen Geräten sah das Schriftbild deshalb anders aus.
Die Schrift floss im Vergleich, wie dies unter dem Einfluss von Stromgeistern typisch sein könnte, und manchmal zeigten sich auch Stromschnellen. Falls das jeweilige Gerät einen Blocksatz erzwang, weil dies schöner anzusehen sei, konnten leicht unschöne Löcher im Text entstehen. Ein Trennungsalgorithmus, der lange Worte hätte aufteilen können, stand nicht zur Verfügung. Es blieb den Geistern lediglich übrig, wenige Worte auf die gesamte Breite zu verteilen, als würden Steine und Felsen den Fluss der Schrift behindern. Die Steine und Felsen hätte man als Leser freilich hinzuerfinden müssen, um sie jedoch zu stabilisieren, waren die entstandenen Schriftlöcher optimal. Es fehlte aber noch die Gischt. Ein Murmeln oder Zischen von Seiten der Leser hätte die sinnliche Erfahrung ergänzen können.

Um eBooks zu genießen, sind Leser, dem Exkurs nach, weitaus mehr gefordert als Autoren. Noch ging es überhaupt nicht um einen konkreten Text, sondern um die Zugangsvoraussetzungen. Diese können Autoren allerdings gleichgültig sein. Ob ein Blocksatz oder Flattersatz angezeigt wird, und wie die konkreten Absatzformate gestaltet sind, ließe sich von Technikern als auch Lesern beliebig aufladen, ob mit Manito oder ohne, ob mit Wechsel- oder Starkstrom, Autoren müssen sich darum nicht kümmern. Besonders dann, falls sie etwas zu sagen und zu schreiben haben.

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Freitag, 11. März 2016
Worüber sprechen Sie?
I

Sobald man Sprache thematisiert, besonders Worte, und sich nicht der Umgangssprache, auch nicht der schriftlich festgehaltenen, dem redaktionell betreuten Duden bedient, läuft man Gefahr, nicht mehr verstanden zu werden. Umgekehrt ist Ähnliches möglich. Hat man damit begonnen, Sprache in Frage zu stellen, kann es schwer sein, zu erfahren, worüber andere sprechen. Dies beginnt mit einfachen Worten, betrifft jedoch auch eine gesellschaftlich erneut in Mode gekommene Buchstaben- bzw. Lautkombination wie ‚Kultur‘.

Die Frage nach angemessenen Worten reicht aber weiter. Bislang ist lediglich die Kommunikation angesprochen worden: vielleicht gibt es so etwas wie Kultur gar nicht, eventuell wäre es unmöglich, sich sprachlich auf eine solche zu beziehen? Sprechern würde es unbemerkt bleiben, die lediglich der Umgangssprache folgen. Und falls es unmöglich wäre, dass eine Kultur existierte, würde aus der simplen Annahme, dass es Kultur gäbe, dies sei nebenbei erwähnt, keinerlei Mythos entstehen können, keine Mystik oder gar Magie. Auch in solchen Fällen wäre zu klären, worüber in diesem Kontext gesprochen werde, im Vergleich.

Im deutschsprachigen Raum werden Fragen nach Bezügen kaum gestellt. Im Zentrum stehen Bedeutungen, also bestenfalls sprachliche Erläuterungen von Worten. Doch weshalb und worüber? In der Regel ist von Sprechern zu erfahren, dass ausgesagt werde, was sie meinen oder heißen. Dem ließe sich entgegenhalten, dass es für mehr als ein Kalten wohl nicht reichen würde. Nicht Worte meinen etwas, sondern möglicherweise Sprecher. Die Frage nach einem Meinen führe in die psychologische Spekulation. Diese wäre jedoch unrelevant, helfe sprachlich nicht weiter. Und eine mögliche Verfolgung von ‚heißen‘ hin zu ‚Namen‘ ließe die Frage aufwerfen, was das sei, ‚Namen‘? Doch anstatt innezuhalten, wird nicht selten nachgeschoben: Ein Wort könne sogar mehrere Bedeutungen haben. Dies ließe kopfschüttelnd fragen, was das für ein Ungetüm sei, ein Wort?
Falls die letzte Frage tatsächlich fällt, kehrt häufig Stille ein, doch abwinkend, als hätte sich der Fragende als Idiot erwiesen, der nicht einmal weiß, was Worte sind. Eventuell wird noch mit den Lippen tonlos ‚Wort‘ formiert, oder ‚Arschloch‘. Mehr ist jedoch kaum rauszubekommen.

Eine im deutschsprachigen Raum medial nicht selten angeführte Bildungsmisere beginnt schon unter bürgerlichen Einheimischen, und zwar in Bezug auf Sprache. Die Zeilen von Brinkmann, „DIE SPRACHE DER STEINE / UND WIR HABEN KEINE“, aus dem Gedicht, „Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand“, kann durchaus bildhaft treffen. Eine Literatur, die sich um relevante Fragen nicht kümmert, deren Verfasser nicht einmal verstehen, um was es gehen könnte, ließe, von wem auch immer, eine Sonderstellung außerhalb des Alltagsgeplauders nicht beanspruchen. Die Zuwendung vieler Verlage auf eine Nachfrage, bedingt durch die Medienkonkurrenz, zu der sich nicht nur Kino, Funk und Fernsehen gesellen, sondern inzwischen auch Games, hat dazu geführt, dass ein literarischer Anspruch inzwischen kaum über ältlich anmutendem Kitsch hinausgelangt. Dieser beginnt zumeist mit einer Geschichte, einem Treppenwitz.

Erfolg interessiert! Aus wirtschaftlicher Sicht ist diese Wahl durchaus verständlich, literarisch hingegen ohne Belang. Das innerhalb des sogenannten Literaturbetriebs regelmäßig vollzogene Ausweichen, Schriftsteller wollten auch gelesen werden, tatsächlich stehen nur Bücher zur Wahl, investiv als auch im Vertrieb, kann darin bestärken, dass die Zeit für avancierte Neuerungen wohl vorbei ist. Das Publikum kauft Schmöker. Für solche Leute hätte ich z.B. nichts zu bieten.

„Sie da“, höre ich aus meinem weiteren Umfeld, „Sie haben den Zug verpasst. Heute ist, wissenschaftlich betrachtet, alles Kultur, was Menschen angestellt und verbrochen haben, von Kloschüsseln über Literatur bis hin zu Kriegen, eine Voraussetzung ist die Weitergabe.“ Über diese wissenschaftliche Naivität ließe sich schmunzeln, falls sie nicht von Lehrenden an Hochschulen als allgemeingültige Definition vorgetragen würde.
In einem mir bekannten Fall saß übrigens ein Wissenschaftspolitiker im Hintergrund, der anfragt hatte, ob sich nicht eine Angleichung vollziehen ließe, die internationalen Rang verspreche. Gebraucht werde lediglich eine Definition. So etwas könnte von den Professoren doch aus der Hüfte geschossen werden. Und tatsächlich, die als nachahmenswert beurteilte Italo-Szene gelang. Dass auch andere Tiere eine Weitergabe pflegen, besonders an ihre Jungen, z.B. Wale, wen könnte es interessieren? Die trinken doch keinen Whiskey, schon gar nicht an einer Bar.

Ein Kultur-Fuzzi kann sich selbstverständlich mit allem befassen, was akribisch archiviert wurde, oder salopp. Sprache sei doch egal, solange man sich irgendwas zusammenreimen könne, auch ohne zu reimen. „Also, Sie“, wurde mir nachdrücklich beschert, „jetzt werden Sie doch mal pragmatisch. Nicht Sprache allein, Kultur macht die menschliche Basis aus, so einfach ist das.“ Dass sich dieser sogenannte ‚cultural turn‘ nicht ohne Sprache vollzogen haben kann, ihr eine Sonderstellung zuzukommen hätte, die nicht bloß Kommunikation, sondern auch ein mögliches Erkennen bedingt, war an der Bibliotheksbar nicht zu schlucken. Zur Feier der Italo-Szene gabs nur Whiskey - und als der versoffen war, noch karibischen Rum.

Eine alles Menschliche umfassende Kultur hatte Samuel von Pufendorf im Dreißigjährigen Krieg ersehnt, als Kriterium allerdings Vernunft ausgegeben. Was das aber sei, Vernunft, ließ er offen. Vielleicht hätte er mehr als nur eine akademische Blindvokabel wählen sollen?


II

Worte ‚Vernunft‘ dienten unter Akademikern jahrhundertelang zur sozialen Abgrenzung, auch innerhalb der Menschheit. Lebewesen ohne angebliche Vernunft waren ihnen nichts als Tiere. Erst Immanuel Kant änderte die Ausdrucksweise, sprach allgemein von vernunftbegabten Lebewesen, ohne jedoch festzuhalten, worauf sich diese Begabtheit bezieht oder beziehen könnte. Auch in seinen Schriften blieb es bei einer Blindvokabel, aber er unterließ eine Denunziation, zumindest unter Menschen.
Von Kultur-Fuzzis werden besonders gern Kants Ausfälle gegen ein höfisches Sich-zivilisiert-Geben zitiert, ein französisch anmutendes manierieren. Doch schon seine vergeblichen Versuche, zu bestimmen, was hingegen Kultur sein könnte, sind weitgehend unbekannt. In seiner Pädagogik blieb nicht mehr als eine beliebige Liste, die ohne theoretische Fassung auszukommen hatte.

In jener Zeit der Aufklärung wurde von Pufendorfs sprachliche Adaption entdeckt, im Zuge einer sprachlichen Abwendung von französischen Einflüssen, die bereits Europa durchzogen. Aufgegriffen hatte von Pufendorf den lateinischen Wortlaut, ohne sich jedoch auf den konkreten Bezug zu beschränken: die Äcker, die Gottheiten, die für ein Gedeihen förderlich seien. Diese landwirtschaftliche Fassung hielt sich nicht nur bis ins lateinische Mittelalter, sondern war auch noch in der Renaissance verbreitet.
Um es gesondert zu betonen: In der Renaissance wurde nicht Kultur, in welcher Fassung auch immer, angestrebt, sondern eine Natürlichkeit, in Abgrenzung vom metaphysisch geprägten lateinischen Mittelalter. Eine Überfrachtung der Zeitspanne mit Worten ‚Kultur‘ würde es unmöglich machen, angemessene Einschätzungen zu gewinnen. Mehr als eine Projektion ließe sich nicht bilden, die freilich einen angemessenen historischen Blick in die Renaissance nachhaltig verhinderte, ob in Bezug auf die Schriften des Philosophen und Sprachkritikers Lorenzo Valla, die Stücke des Dramatikers Shakespeare oder die Entwicklungen in der Musik.

Außer der bäuerlichen Errungenschaft ‚Kultur‘ hatte sich eine Metapher durchgesetzt, die nachhaltig von Cicero präsentiert wurde. Mit dieser bezog man sich in übertragender Weise auf den menschlichen Geist und nutze sie vor allem pädagogisch. Im Mittelalter durchpflügte der Fantasie nach der christliche Gott die Geister und schwang eine Ochsenpeitsche.
In der Renaissance setzten sich die humanistisch ausgerichteten Gelehrten von dieser Metapher ab. Worte ‚Ingenium‘, ‚Begabung‘ bzw. ‚Talent‘, gewannen an Relevanz. Mit der vergangenen Ochsenkultur wollte vermutlich kaum jemand mehr etwas zu tun haben.

Allgemeine Worte ‚Kultur‘, die seit Pufendorf entwickelt wurden, wären aus sprachhistorischer Sicht bislang nur Modevokabeln, die allenfalls enge zeitbezogene Auskünfte geben könnten, u.a. über das gesellschaftliche Verhalten heutiger Menschen, theoretisch jedoch völlig unbrauchbar wären. Ist dies unbegreiflich?
„Sie“, tönt es aus einer Kulturredaktion, „lassen wir die youtubereife Wild-West-Show der Professoren einmal beiseite. Wie Sie zu Recht hervorgehoben haben, ist ‚Kultur‘ erst einmal nur ein Wortlaut. Aber das besondere Merkmal einer Verfeinerung beträfe doch die Züchtungen der Landwirtschaft als auch eine mögliche Gesittung und Bildung. Wie man ein solches Engagement schließlich nennt, wäre doch relativ zweitrangig. Entscheidend könnte der Bezug sein, auch wenn sich darüber streiten ließe, was unter ‚Verfeinerung‘ fiele, eine industrielle Massentierhaltung z.B. kaum.“
Diese Auskunft bringt ein typisch bürgerliches Bedürfnis ein, das sich mit der Aufklärung in den Salons verstärkt bemerkbar machte und über Jahrhunderte umgangssprachlich prägend wurde, übrigens bis in den Ersten Weltkrieg hinein. Auf eine nationalistisch gesinnte Kultur möchte ich in diesem Zusammenhang jedoch nicht eingehen. Es lohnte sich nicht, auch wenn Rückwendungen zu einer vor-nationalsozialistischen Zeit in einigen konservativen Kulturkreisen durchaus bemerkbar sind.

Aus dem bürgerlichen Hang zur Verfeinerung entstand die sogenannte Hochkultur, ein Abgrenzungsphänomen, das sich vor allem politisch und sozial auswirkte. Viele Städte in Deutschland haben noch heute sogenannte Kulturabteilungen, die sich besonders um die eigens aufgebauten Institute kümmern, soweit finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Besonders gefördert werden z.B. Museen, Opern- und Schauspielhäuser, aber auch Bibliotheken und Volkshochschulen. Entstanden waren sie aus einem bürgerlichen Präsentationsbedürfnis, gleichfalls aus einem pädagogischen Interesse, das eine Teilhabe weiterer Schichten erhoffte und vorsah. Als hochkulturell wurden in diesem Kontext - im Unterschied zur Archäologie, die i.d.R. länderweit vorging -, vor allem diejenigen Einrichtungen eingestuft, die sich mit Künsten beschäftigten.

Doch solange umgangssprachlich beliebig bleibt, was unter ‚Verfeinerung‘ zu verstehen ist, auch Gewalt und kriegerische Mittel lassen sich verfeinern, Chemie und Biologie hätten in diesem Zusammenhang wirklich Feines zu bieten, könnte die mögliche Vorbringung dieser Art und Weise nicht hilfreich sein. Die Scheuklappen einer sogenannten Kulturredaktion würden den möglichen Bezugsumfang von vornherein einschränken, ohne dies berücksichtigen zu können. Die angebotene Lösung wäre allenfalls formalistisch, doch kaum etwas wert, weil ein Bezug weiterhin im Dunkeln bliebe. Falls aber tatsächlich ein Interesse an Künsten bestände, weshalb lässt man Worte ‚Kultur‘ nicht einfach los und konzentriert sich stattdessen auf Worte ‚Künste?‘
Der Grund ist eventuell relativ leicht auszumachen: Die bürgerlichen Kulturhonoratioren, ob in Redaktion, Administration oder Management sind manches, doch zumeist keine Künstler. Sie könnten nicht dazugehören, darüberhinaus würden sie etwas verlieren, das ihnen gesellschaftlichen Rang verleiht, sie wären auch noch kulturlos, gleichsam Barbaren?


III

Eine mögliche Erregung über den Verlust von Kultur ließe sich beschwichtigen. Sähe man von der regionalen landwirtschaftlichen Fassung ab, die unter Römern galt, hat es nie eine geben. Sie ist ein Bedürfnisprodukt, das in Deutschland von Beginn an, zunächst durch Samuel von Pufendorf, politische motiviert war, durch den Dreißigjährigen Krieg. Zu mehr als zu historisch spezifischen Gefühlslauten ‚Kultur‘ hat es jedoch nicht gereicht. Im antiken Griechenland waren vergleichbare Lautäußerungen unbekannt. Dort beschränkte man sich auf die Ausbildung von konkreten Künsten. Und weil im alten Griechenland unterschiedslos Fremde als Barbaren galten, denen u. U. die jeweils üblichen konventionellen Umgangsformen fehlten, wäre ein detaillierterer Vergleich unerheblich.

Der mögliche Lateinfetischismus von Honoratioren umfasst jedoch nicht nur Worte ‚Kultur‘, sondern auch ‚Natur‘. Umgangssprachlich werden sie im deutschsprachigen Raum, wie der Duden dokumentiert, voneinander abgegrenzt. In Bezug auf eine sogenannte Natur bleibt aktuell nicht mehr als von Menschen weitgehend Unberührtes. Diese Abgrenzung verdeutlicht die Perspektive, aus der die Worte weiterentwickelt wurden: nicht aus einem sachlichen Interesse, sondern aus simpler Egozentrik.
Die Naturwissenschaften sind vermutlich gesellschaftlich relativ fremd geblieben. Ihr gesellschaftlicher Aufstieg, ohne den es keine technische Entwicklung gegeben hätte, besonders seit dem 19. Jhd., blieb sekundär, bekannt sind sie primär als mögliche Techniklieferanten, weniger im Hinblick auf Erkenntnisse. Zentral sind zur Fassung von Worten ‚Natur‘ innerwissenschaftlich die Naturgesetze geworden, probabilistische Hypothesen und Aussagen über mögliche Geschehnisse. Alles was diesen angenommenen Zusammenhängen folgt oder neue bilden lässt, gilt als Natur. Dazu gehört auch die irdisch relevante Schwerkraft bzw. Gravitation, mittels der sich erläutern ließe, weshalb ein Mensch, falls er stolpert, auf den Boden fällt, nicht in den Himmel aufsteigt. Eine emotionale Bedürfnisbefriedigung, die an der jeweiligen Sache vorbeigeht, bleibt zumeist außen vor.
Überraschungen geschehen, wenn z.B. bei Modellbildungen nicht alle relevanten Parameter einbezogen wurden, oder nur unzureichend. Sowohl das nicht-wissenschaftliche aber formulierte Interesse, Handlungsanweisungen geben zu können, als auch das öffentliche Interesse an verbindlichen Vorhersagen eines Klimawandels sind anführbare Beispiele. Die Erwartungen übersteigen eventuell die möglichen Erkenntnisse. Sich als Wissenschaftler in diesem Kontext zu weit aus dem Fenster zu wagen, dies wird kommunikativ gerne übersehen, lässt bildhaft die Gravitation wirken.

Die zumeist mathematisch gestützten Erkenntnisse schließen jedoch nicht aus, dass auch eine sprachliche Arbeit möglich wäre, eine wissenschaftliche als auch eine künstlerische. Um ein Gedicht zu schreiben oder zu interpretieren, sind nicht einmal mathematischen Grundlagenkenntnisse erforderlich. Stören könnte allenfalls ein sonderbarer Psychologismus bzw. Kognitivismus, mit dem z.B. nach Intention, Deutung, Denken gefragt wird, nach Prozessen, die sich nur innerhalb von Individuen abspielen können. Falls jedoch Sprache im Zentrum bliebe: darauf ließe sich tatsächlich Bezug nehmen, auch interpretativ, zumindest möglicherweise. Ob eine Formulierung trifft, hätte sich allerdings erst herauszustellen.
Ein sprachlicher Bezug ist nicht auf die Empirie eingegrenzt. Auch die naturwissenschaftliche Annahme einer sogenannten dunklen Materie, durch die das Licht einfach hindurch scheint, beruht lediglich auf einer logischen Möglichkeit. Alternativ wäre das physikalische Standardmodell anzupassen, das aufgrund von Beobachtungen seit den Dreißiger Jahren Schwierigkeiten machen könnte. Wissenschaftlich ist es üblich, eine empirische oder eine logische Möglichkeit in Betracht zu ziehen, künstlerisch ließe sich sogar beides vermeiden, falls konkret Wege gefunden werden, die eine mögliche Plausibilität unterstützen.


IV

Meine Erörterungen über Worte ‚Kultur‘ und ‚Natur‘ erläuterten, welche Relevanz sprachliche Bezüge haben. Erst durch diese kann begreiflich werden, worüber gesprochen oder geschrieben wird. Bedeutungen reichten dafür nicht aus. Zeichen hingegen, Noten als auch Zahlen, kommen leicht ohne Bezüge aus, auch wenn sie etwas bedeuten. Um die Bezugsrelevanz praktikabel zu machen, wäre es hilfreich, Wortbedeutungen konkret die möglichen Bezüge erläutern zu lassen, nicht auf ein Meinen oder Heißen auszuweichen.
Spätestens seit der Aufklärung ist allerdings bekannt, das ein wahrnehmender Zugang auf eine von Individuen äußere Welt biologischen Bedingungen unterliegt, die fraglich werden lassen, ob es sich speziell bei der von Menschen erkennbaren Empirie um Realität handelt. Die relevanten Organe, Gehirne eingeschlossen, auch speziell konstruierte Messinstrumente, die menschliche Fähigkeiten erweitern, sind beschränkt. Hinzukommt, dass es auch sprachliche Bedingungen für ein mögliches Erkennen gibt. Fehlt z.B. eine Differenziertheit, entgleiten Unterschiede rasch. Berücksichtigt man die menschliche Beschränktheit, kann grundsätzlich gefragt werden, worauf ein Bezug noch möglich ist. Mehr als eine vorstellbare Wirklichkeit ließe sich von mir nicht in Aussicht stellen, in Abhängigkeit von den Bedingungen.

Was würde sich aber ergeben, falls vorgeschlagen würde, einem Wort ‚Kultur‘ oder ‚Natur‘ jeweils verschiedene Bedeutungen unterzuschieben? Zunächst wäre auffallend, dass man einer schlichten, pragmatisch orientierten Praxis folgen würde, die bei dem Verfassen von Wortlisten typisch ist. Auch der Duden gehört zu einem solchen Resultat. Von einem Wort wie ‚Kultur‘ bliebe als Gemeinsames unterschiedlicher Bedeutungen und Bezüge lediglich die Lautstruktur bzw. eine Buchstabenreihe. Ich müsste gestehen, dies wäre mir zur Fassung eines Wortes zu wenig. Formulierbar wäre aber, dass eine Anhäufung von Lauten und Buchstaben die erforderliche Vielfalt an Bedeutungen und Bezügen bieten könnte; erst gemeinsam würden sie so etwas wie ein Wort bilden können.
Unter dieser Voraussetzung entstünde aber eine neue Schwierigkeit: Falls erst gemeinsam, einschließlich aller Bedeutungen und Bezüge, ein relevantes Wort entstünde, ließe sich nicht mehr differenzieren. Ein Wort hätte stets alles zu bedeuten, sich auf alles beziehen, das im gewählten Kontext angesammelt wurde, und dies zugleich, sonst wäre es nicht mehr das zuvor gebildete Wort.
Es bliebe lediglich übrig, von verschiedenen aber gleichlautenden Worten auszugehen, je nach Bedeutung und Bezug. Diese logische Sichtweise ließe sich nur literarisch vereiteln, indem eine Alternative angeboten wird, die sprachlich plausibel erscheinen kann. Doch auch belletristisch würde eine umgangssprachliche Verwechslung von Lauten bzw. Buchstaben mit Worten unplausibel bleiben.
Entgegen all der offerierten Möglichkeiten, die den Menschen zunächst die sprachlichen Gewohnh- und Behäbigkeiten austreiben könnten, … inzwischen hört wohl kaum noch jemand zu. Es ist vermutlich bequemer, einem egomanischen Fantasieprodukt zu trauen, dessen größter Vorzug die Tradition sein könnte, als sich von einem asozialen Autor triezen zu lassen.

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Donnerstag, 21. Januar 2016
Das digitale Blütenland

[Bild: Apfelkoppel - Joshua - ]

Um es vorwegzunehmen, das digitale Blütenland besteht aus Nullen und Einsen, die unter Strom geraten sind, aus einer aufgeladenen und vibrierenden Kodierung, die in einem Dunkel leuchtet, dabei jedoch Anderes als sich selber aufscheinen lassen kann. Dieses Andere, literarisch wäre es üblich, eine Bedeutungsschwangerschaft vorzutäuschen, eine Scheinschwangerschaft, beträfe zunächst nur Bildpunkte auf einem Monitor.
Diese Sichtweise reicht jedoch nicht tief genug. Um es möglichst kompliziert zu machen: Die quantenphysikalischen Unwägbarkeiten, die Fluktuationen von Teilchen zu Wellen und von Wellen zu Teilchen zulassen, sind kaum mit tierischen Sinnen erfassbar, allenfalls durch Messinstrumente, nur das klobige Gedöns, ob Bildpunkte eines Monitors oder auf dem Markt gekaufte Äpfel. Was das jedoch ist, das Klobzeug, bliebe gleichfalls unsicher.

Vielleicht wären statistische Wahrscheinlichkeiten auszubilden, allerdings nicht über einer Grundgesamtheit von Gedöns, sondern über Wahrnehmungen. Ist diesen zu trauen? Wie hoch wäre z.B. die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen einen Apfel als Apfel wahrnehmen? Bereits die Frage hat besondere Tücken, denn offenbar wird, während ich sie stelle, von mir vorausgesetzt, was ein Apfel ist und was nicht. Vielleicht gibt es gar keine Äpfel? - Die sonderliche Anhäufung der Buchstaben ‚wahr‘ ist lediglich historisch bedingt, mythografisch. Falls man einen sprachlichen Bezug in Erwägung ziehen würde, ließe sich leicht auf jene Staben verzichten, doch verstehen würde mich wohl kaum jemand.

Eventuell, um der Frage auszuweichen, ob es überhaupt etwas gibt, beruhen hohe Wahrscheinlichkeiten lediglich auf einem besonderen Effekt: den Resultaten eines Schulterklopfens, auf einer spezifischen Popularität unter Leuten, die ein bedingtes Klopfen befürworten - als wäre zu fragen, ob da etwas oder jemand ist?
Tatsächlich wäre von uns gar nicht beantwortbar, ob es Äpfel gibt und wie sie aussehen, riechen. Auch nicht von einem bäuerlichen Erzeuger, der so etwas wie Äpfel anbietet. Es ist längst bekannt, dass unsere Wahrnehmungsorgane äußerst selektiv vorgehen, wie Filter, und sich zudem leicht trügen lassen. Die Verarbeitung übernimmt ein spezielles Organ, das Gehirn, bis hin zu einer Aufbereitung und Projektion, die uns unter Umständen inneren Film und Äußeres verwechseln lässt. Betont sei freilich, etwas war da. Was, bleibt aufgrund der Selektion jedoch unbekannt, von der sogar Beobachter betroffen wären. Wir haben ziemlich scheele Blicke auf - auf die Welt?
Das digitale Blütenland ist nicht mehr als eine Nachahmung der Projektion, die uns das Gehirn leistet, in der alles und nichts simuliert wird, bis auf das Packaging, der nach einem ausgiebigen Gebrauch eventuell gekrümmten oder gar verbeulten Dose, aus deren Fenster es famos leuchten kann.

Klarheit bringt die Nachahmung jedoch keineswegs! Nicht nur ist unsicher, ob es Bildpunkte und Äpfel gibt, vielleicht taugt auch die Sprache nichts, mit der ich es unternahm, den relevanten Sachverhalt zu beschreiben? Es ließe sich im digitalen Blütenland nicht nur nichts simulieren, auch nichts erläutern, nicht einmal als Voraussetzung für eine Simulation. Nicht einmal nichts wäre möglich, sinnlich als auch sprachlich. Und jetzt?
Eine weitere Frage: Wer triebe einen solchen Schabernak? Eventuell Alienkinder? Spielfiguren bemerken selten, dass sie nur Bestandteil eines Adventure sind. Und können ähnlich auf die Erfahrung reagieren, falls ihnen plötzlich nichts bleibt, das nicht bodenlos ist, nicht einmal nichts. Sind wir Gestalten in einem Alien-Game, in dem irgendwann und immer wieder das Licht ausgeht?

*

Um auch noch einem möglichen Schluss auszuweichen, der durchaus plausibel wäre, kann es überhaupt ein digitales Blütenland aus Menschenhand geben?
Auch Spielfiguren, räumte man ihnen einige Freiheitsgrade ein, wäre zuzutrauen, ein digitales Blütenland zu erschaffen, freilich nach ihrem Bilde, so eingeschränkt und dubios es sein mag. Es würde, vielleicht ist dies für manche erschreckend, gar keinen Unterschied ausmachen, ob wir bloß Figuren aus Alienhand wären oder nicht.
Eine von uns aufgezeichnete Geschichte des Blütenlands, die wir inzwischen digital bewahren würden, begänne mit dem erstarken von Königshäusern, den angelegten Archiven, vielleicht für eine historische Ewigkeit, also eine abzählbare Zeit, in der immer mal wieder das Licht ausginge, nicht nur durch Alienhand, auch z.B. innerhalb eines dreißigjährigen Krieges.
Ein solches Gemetzel hätte tatkräftig zu beweisen, dass wir etwas Großartiges, Fantastisches wären, etwas völlig anderes als wir selber. Und sobald das Licht ausginge, in was für einem Völkersturm der Menschenfiguren auch immer, würde für diese erkennbar nichts geschehen.

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[Text und Bild wurden für "Die Novelle" (#6 2016) eingereicht]

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