Dienstag, 12. August 2014
Siechenhaus (XII)
XXI

Oh nein!

Ich habs genau gesehen. Der Fuß …

Hallo? Wir benötigen dringend eine Notfallversorgung. Auf Höhe der Inneren, im Treppenhaus! Zwei Besucher sind auf dem Anstieg zur Neuropsychiatrie gestürzt.

… Der Fuß des Mannes rutschte ab. Ich stand direkt daneben. Und sein Oberkörper kippte nach vorn. Seine Arme wedelten, und ich hatte Glück, nicht getroffen …

Das darf doch nicht wahr sein. Vermutlich die Anstrengung. Eventuell müssen wir umdisponieren. Ich hoffe, lassen Sie mich bitte durch, dass keine bleibenden Schäden entstanden sind. Können Sie die Beine bewegen? Und die Füße? Und Sie?

… Ich wurde zum Glück nicht getroffen, doch er fiel zurück und schlug der Dame ins Gesicht, also wohl nicht absichtlich …

Hilfe habe ich bestellt. Sie wird umgehend eintreffen. Bleiben Sie bitte auf dem Boden. Wenn es möglich ist, legen Sie sich hin. Keine ruckartigen Bewegungen! Entspannen Sie die Muskeln. Gleich wird man Ihre Knochen und Gelenke prüfen können. … Ja, hier auf der Treppe. Sie nehmen die beiden mit auf die Station? Und Sie halten mich auf dem Laufenden? … Dann wird es das Beste sein, wenn wir ins Erdgeschoss fahren. In der Kantine gibts Kaffee. Hören Sie? Wir fahren, sobald Hilfe eingetroffen ist, hinab in die Kantine und trinken erst mal Kaffee, was halten Sie davon? … Bei Notfällen dürfen wir den Aufzug benutzen.


XXII

Irgendwann musste so etwas geschehen. Na ja, würde. Die Leitung sollte sich schnell etwas einfallen lassen, um weitere Unfälle zu vermeiden. Solche Öffentlichkeittouren sind anstrengend. Treppauf, treppab. Und das Stehen. Huuuaaar. Was machen wir jetzt mit den Leuten?

Die trinken erst mal Kaffee. Ihre Idee war gut. Schauen sie, wie aufgeregt die Touristen hantieren. Etwas Beruhigung täte auch ihnen gut. Sie bekommen bald eine Nachricht aus der Knochenstation. Und die beiden Besucher werden zu uns stoßen. Vielleicht sollten wir die Führung in der Kantine zu Ende bringen? Erzählen lässt sich auch hier. Haben sie nicht ein paar hübsche Bilder, die man an die Wand klatschen könnte?

Wunderbar! Eine hübsche Klatsche. Wir haben irgendwo Dias und einen Projektor. Das wird gehen. Ich ruf mal bei der Technik an.

Die bedauerswerte Dame.

Hups. - Ja, hier …


XXIII

Ich verabschiedete mich mit einem Päckchen Tabak in der Hand, um in den Innenhof des Klinikums zu wechseln. Eine möglich gewordene Auszeit, abseits der Geräusche, hatte den Drang nach Nikotin verstärkt. Zumeist war es in dem Karree ruhig geblieben, auch falls sich mehrere Personen eingefunden hatten. Als ich hinaustrat, schritt jemand gegenüber des Kantinenzugangs die Fensterwand entlang.

Bald, dachte ich, wird der Bus eintreffen. Ich zündete meinen Dreh an. Lange könnte der Fahrer nicht auf die Touristen warten. Der Rest des Tages muss kompakt gestaltet werden. Ich hatte bei meinem anfänglichen Vortrag nicht den Eindruck gewonnen, auf Interesse an Worten Natur Kultur gestoßen zu sein. Blabla.

In der Kantine baute jemand einen Bock für den Projektor auf. Das Glas spiegelte, nur Umrisse waren zu erkennen. Plötzlich wurde ein Vorhang zugezogen. Ich drückte den krummen Rest im Außenascher aus.

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Montag, 11. August 2014
Siechenhaus (XI)
XIX

Aber nehmen wir mal hypothetisch an, Sie hätten Recht und der Tod wäre nur ein Lebensende, dann könnte ich jenem Knipser, Ihrem Oberbürgermeister, einwandfrei zustimmen. Es wird halt ausgeknipst. Fertig. Ein Tod wäre ja nicht schlimm.

Ich darf, ja? - Warum lassen Sie nur emotionale Extreme zu? Im Alter beschäftigt das Ableben und seine Unvermeidbarkeit ohnehin. Der Verfallprozess ist jedoch mit einem Ausknipsen nicht vergleichbar. Vorzeitig ein Ende zu setzen, willkürlich, lässt den Agierenden zu einem Schreckgespenst werden, vor dem sich eine Stadt hüten könnte. Ich würde versuchen, die Umstände einzubeziehen.

Ein echt grausame Thema. Ein frustrierendes. Aber vielleicht haben sie Recht. Mit einem Wust an Gefühlen kommt man einfach nicht weit. Ach, ist das der Zeitpunkt, an dem die Trauer beginnt?

Beginnen kann.


XX

Hat noch jemand Fragen? Ich weiß, wie aufreibend die Sache ist. Und leicht machen wir es Ihnen wohl auch nicht. Doch bevor es in den nächsten Stock geht, wäre ich froh, wenn die gröbsten Erschwernisse abgebaut sind.

Geht es jetzt in den Himmel?

Nein. Noch nicht. Eine Etage höher erwartet Sie die Neuropsychiatrie. Oben ist keine Schranke, sondern eine Panzerglastür. Wie stets? Hat jemand von Ihnen Angst? Nein? Gut. Ich darf mit dem Schlüssel vorausgehen? Dort ist auch unsere Forschungabteilung untergebracht. Uns beschäftigt die Frage nach dem Weg in die demente Gesellschaft! Kommen Sie? Außerdem wird uns erläutert werden, wie es in unserem Haus um Natur und Kultur bestellt ist.

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Sonntag, 10. August 2014
Siechenhaus (X)
XVIII

Habe ich Sie erschlagen? Sie dürfen gerne Fragen stellen oder Anmerkungen machen.

Ja nee. Was Sie vorstellen, klingt irgendwie parallel. Die Realität sieht doch ganz anders aus, also die normale. Ich verstehe das nicht. Man muss doch die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren. Sie können doch nicht einfach die Insassen, also die Patienten auf Tournee schicken. Das ist doch völlig absurd. Hat denn hier niemand Würde?

Mit welcher Wahrheit?

Wahrheit? Na mit dem Tod!

Gibt es den? Was ist für Sie Tod?

Jetzt wundere ich mich aber. Sie haben doch selber über den Tod gesprochen. Er ist doch eine Tatsache. Ich frage Sie, was kommt denn Ihrer Ansicht nach nach dem Tod?

Die Beerdigung.

Sonst nichts? Ich meine den Tod, diese Auslöschung, dieses Nichtsein, sowas muss man doch ernst nehmen. Diesen Blick in die furchtbare Leere. Den gilt es doch auszuhalten, damit muss man sich doch auseinandersetzen. Das ist doch ein Schrecken!

Glauben Sie?

Woran?

An den Schrecken.

Hhaaaa, ich blicke nicht mehr durch.

Das Wort Tournee wurde von einer ehemaligen Tänzerin eingeführt, mit leiser feiner Stimme, als sie zu einer Spezialbehandlung nach Düsseldorf aufbrechen musste. Einige Wochen später nutze es ein Rockopa. Ihn, glaube ich, hat man bis in den Himmel gehört. Seitdem zählt es zum Wortschatz vieler unserer Patienten und wird in der Regel mit einem Lächeln geäußert. Die meisten Menschen sind in einer Konzert- und Fanwelt aufgewachsen. Nun, im Alter, gehen Sie mit rosa Wangen selber auf Tournee. Was ließe sich dagegen sagen?

Und nach der Beerdingung, was kommt dann? Ich finde, dass mein Vorredner nicht ganz unrecht hat. Der Tod ist doch wie ein großes schwarzes Loch. Wenn ich da reinfalle, weiß ich nicht, was dann passiert. Das macht doch den tiefen Ernst aus.

Die Verwesung.

Was? Verwesung? Was soll das bedeuten? Leugnen sie den Tod?

Entschuldigung, wenn ich eingreife, aber sie beide verwechseln etwas. Das einzige Sein, auf das sich Worte Tod beziehen könnten, wäre ein Lebensende. Lassen sie sich von der Sprache keinen Bären aufbinden, kein Ungeheuer mit bleckenden Zähnen und rollenden, rotunterlaufenen Augen. Zu glauben, bleibt ihnen weiterhin frei, aber bitte nicht an eine solche Bestie.

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