Donnerstag, 7. August 2014
Siechenhaus (VII)
XII

Leben und Tod auf der Straße gehört bereits zum Alltag, auch hier in Hochfeld. Eine alte Frau zog jahrelang mit zerfetzter Kleidung, einigen Tüten und machmal mit einem klapprigen Handwagen durch den Stadtteil. Sie starb unter den Arkaden, einer ehemaligen Einkaufsmeile, die von Schnellimbissen, einem Internetcafé mit Wechselstube und einem Spielsalon genutzt wird. Die Müllabfuhr fand sie an einem Morgen, wie aus einer Pressenotiz zu lesen war, den Nacken zurückgebogen, mit offenem Mund, den Hinterkopf im Rinnstein. Und rief einen Rettungswagen. Es war zu spät. In Duisburg kein Einzelfall. Doch dies wird erst der Anfang sein, wenn solche Vorkommnisse in größerer Anzahl geschehen. In Straßen, Hauseingängen, in Parks: in massenhafter Variation.

Danke für die Unterstützung. Ich benötige Sie später noch einmal. Sie müssen mir in Sachen Kultur helfen. Wir haben sie im Klinikum abgeschafft! Auch Natur ist nicht mehr Natur. Aber ganz verstanden habe ich diese Vorgänge nicht, denn Künste und Traktate werden von unseren Patienten gepflegt. - Sie müssen wissen, dass eine bereichernde Beschäftigung, ja eine Herausforderung für die alten Menschen lebenwichtig ist, um nicht vorzeitig zu verkümmern. Aber zurück zu den Knochen und Gelenken: Im Laufe der Jahrzehnte verschleißt nicht nur das menschliche Skelett, es können heftige Reumaschübe, Knochenverformungen, sogar ein Zerbröseln auftreten. Wunder sind leider nicht zu vollbringen, auch nicht von unseren Ärzten. Eine Heilung, die normalerweise mit einer Erkrankung assoziiert wird, ist nur in seltenen Fällen möglich. Alterbedingte Prozesse sind unumkehrbar. Wir sehen es deshalb als unsere Aufgabe an, unseren Patienten das Leiden zu erleichtern. Dabei helfen auch kuriose Geräte wie dieser Galgen, mit dem das Skelett in der Länge gestreckt werden kann.


XIII

Sie hatten uns vom Himmel im Haus erzählt. Ist die Klinik eine christliche Einrichtung, gehören Sie zu einer Kirche? Gibt es keine Gleichbehandlung?

Genau das wollte ich auch schon längst fragen!

Nein. Wir mussten uns entscheiden. Die Simulation eines muslimischen Paradiess hätte uns überfordert. Eine Gleichbehandlung, die über religiöse Differenzen hinausweist, wäre unserem Anliegen und der typischen Degeneration von Patienten zuwidergelaufen. Wir hätten lediglich Sterbebetten anbieten können. Es gibt muslimische Einrichtungen, wie dort verfahren wird, ist mir jedoch unbekannt.

Dann sind sie nicht kirchlich, und trotzdem behandeln sie nicht alle gleich? Ist das nicht skandalös? Die Klinik kann doch nicht einfach gegen Gesetze verstoßen, so wie es ihr passt! Nicht dass ich hier für den Islam spreche, doch wenn es ums Recht geht, dann werde ich fuchsteufelswild. Dann müssen halt alle in Reih und Glied … !

Unser Klinikum macht ein Angebot, jedoch nicht für jeden. Das wäre von uns nicht leistbar.

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Mittwoch, 6. August 2014
Siechenhaus (VI)
X

Luxus können Sie bei uns nicht erwarten. Bitte folgen Sie mir die Treppe hinauf. Die beiden Fahrstühle müssen den Patienten und dem Personal freigehalten bleiben. Unter einem solchen Haus gibt es nur die Straße. Aber hier geht es hoch bis in den Himmel! Ob wir Zugang erhalten, ist aber noch ungewiss. Ich warte noch auf eine SMS. Als Himmel benannten wir die Hospizstation, oben unterm Dach. Erinnert sich vielleicht jemand von Ihnen an einen rosaroten Horizont im Winter, kurz vor Weihnachten, und an Worte: Dort backen die Engel Plätzchen? Ein solches Rosarot, leicht ins Orange tendierend, haben wir als Dekorfarbe gewählt. Kein Luxus, nur eine Nettigkeit, um das Sterben zu erleichtern. Je älter unsere Patienten werden, um so präsenter wird ihr Langzeitgedächtnis. Und wenn unsere Damen und Herren verwirrt fragen, wo ich bin ich, lässt sich antworten, im Himmel. Eine Labsal, solche Worte.

Unsere finanzielle Lage korrespondiert mit der Armut der Stadt. Dies ist leider so. Sie können auch für Farbe spenden, oder Pinsel. Abnutzungerscheinungen sind nicht zu vermeiden. Farben blättern wie ein Wald im Herbst. Aber wir tun das Mögliche, um eine solche Phase nicht lange andauern zu lassen. Ein Ausfall des Kurzzeitgedächtniss von Patienten hat in unserem Haus immer wieder zu erstaunlichen Geschehnissen geführt. Eine Dame wurde auf der Straße angetroffen, die in Hemdchen, mit Handtasche und in Badelatschen den Bus nach Ostenpreußen suchte. Vorsicht, die Schranke wurde eingerichtet, damit niemand die Treppe hinterfällt. Unter einigen Patienten sind Selfies in Mode gekommen. Wenn sie auf ihre Handspiegel, oder auf hereingebrachte Mobiles starren, verlieren sie leicht die Orientierung. Neue Hüften, die sind Luxus.

Als die Sozial- und Krankenberechnungen eingeführt wurden, blieben vielen Menschen nach dem Arbeitleben noch etwa fünf bis zehn Jahre. Inzwischen hat sich die Zeit des Ruhestands im Durchschnitt verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Mit dem Altern der Gesellschaft wird das Modell untragbar. Es bleibt kaum anderes übrig, als die Versicherungleistungen sukzessive zu reduzieren und bei einer bestimmbaren Altergrenze einzustellen. Ihr Weg könnte vom Himmel auf die Straße führen, oder in ein Gebüsch. Ich bin davon überzeugt, dass wir zukünftig viele Menschen draußen sterben sehen.

Dies hier ist übrigens die Knochenstation, samt der Fachabteilung Orthopädie, die von einigen Patienten scherzhaft Rollbrettausgabe genannt wird. Über ein mangelndes Selbstbewusstsein der alten Menschen können wir in der Regel nicht klagen.


XI

Aber ich hab doch einen Anspruch! Mein ganzes Arbeitsleben hab ich eingezahlt. Wie sie zu Recht betonten, in Versicherungen! Da kann mir niemand mit einem Rollbrett kommen! Ich bestehe auf meinem Recht! Mir ist völlig egal, wo das Geld herkommt. Entweder Recht, oder ich geh auf die Barrikaden!

Wenn sie meinen. Aber ihr Geld ist dann schon futsch! Ich hab mir das mal erklären lassen. Was sie einzahlten, ging an die älteren Generationen. Was sie in Zukunft bekommen könnten, legen die Jungen ein, eventuell. Und was ausem Aufbau von Finanzen werden kann, hat doch die letzte Krise, diese Finanzkriese gezeigt. Nix.

Beruhigen Sie sich doch. Sie beide beschreiben Probleme, doch eine Lösung ist nicht in unserem Haus, vielleicht nicht einmal durch die Politik zu finden. Wir können nur darauf hinweisen, dass mittelalterliche Verhältnisse leichter und rascher eintreten können, als gemeinhin angenommen wird. Frappierend ist: Die Zukunft hält keine Generationen mehr vor.

2060 bin ich längst tot. Was soll das! Ich will nicht 2060 mein Recht, sondern jetzt, also bald, sobald man mich aufhören lässt. Und dann will ich mein Geld auskosten und lachen, über all diejenigen, die noch arbeiten müssen. Diese armen dreckigen Schweine!

Jetzt ist aber gut! Was soll denn die Dame von uns denken? Sie und der andere Herr haben Ihre Meinung kundgetan. Wo soll das hinführen? Ich meine, Sie hat doch geantwortet, da muss man doch nicht schließlich noch rumpöbeln.

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Dienstag, 5. August 2014
Siechenhaus (Teil V)
IX

Ich darf Sie herzlich in unserem Gerontologischen Klinikum begrüßen. Die Sonne scheint freundlich durch die großen Fenster der Einganghalle und lässt uns einen hellen Blick in Ihre Zukunft werfen. Ältere Mitbürger sind in unserer Gesellschaft seit Längerem keine Ausnahmen mehr. Und dieser Prozess kann sich noch verstärken. 2060 wird es, einer Berechnung des Statistischen Bundesamts nach, in Deutschland eine geringere Bevölkerungdichte geben, ceteris paribus, als nach dem Zweiten Weltkrieg. Und fast alle werden Greise sein. Wir haben uns entschlossen, diese demografische Entwicklung aktiv zu begleiten, soweit die gesetzlichen Vorgaben dies zulassen werden.

Wenn Sie vorgesorgt haben, geben Sie uns die Möglichkeit, auch Sie zu einzubeziehen. Sogar eine Mitbestimmung haben wir angelegt. Ein Ältestenrat beteiligt sich an unserem Engagement. Leider fällt es diesem Personenkreis etwas schwer, sich an die Rolle zu gewöhnen. Ein typisches Krankheitbild wie Demenz schränkt die Entscheidung- und Handlungkompetenz ein. Aber die Patienten finden auf allen Etagen bereitwillige Helfer, die unterstützen. Wir sind übrigens vielsprachig. Wenn Ihnen die Viet-Muong-Gruppe geläufig ist, oder Palaung-Wa, dann können Sie nach Herzenlust mit unseren mandeläugigen Mitarbeiterinnen kommunizieren. Dies ist ja die Grundvoraussetzung, um sich wohlfühlen zu können, eine offene aber nette Kommunikation.

Um Ihnen zu demonstrieren, wie zukunftweisend unsere Einrichtung ist, möchte ich Ihnen die Konsequenz vor Augen halten, die sich aus einer fehlenden Vorsorge ergibt: Zustände wie im Mittelalter! Das darf nicht sein! Aber ich will sie nicht schrecken. Wir sind ja alle vernünftig. Alles kein Problem. Ist es kein Traum, sich von mandeläugigem Liebreiz im Alter verwöhnen zu lassen?

Als gerontologisches Klinikum sind wir spezialisiert auf Erkrankungen, die im Alter auftreten. Es ist bekannt, dass, je älter die Menschen werden, auch die Leiden im Durchschnitt zunehmen. Weshalb sich die Menschheit dies antut, kann ich Ihnen nicht sagen, wir haben uns aber entschlossen, darauf zu reagieren und Ihr den Abschied von der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten, mit allem medizinischen und menschlichen Raffinement, das sich von uns, dem Klinikum und seinen Mitarbeitern, aufbieten lässt.

Ich gehöre zum Team Öffentlichkeit und werde Sie durch einige Abteilungen führen. Nicht alle sind für Sie frei zugänglich, um die dort eingeschobenen Patienten nicht unnötig in Unruhe zu versetzen. Wir nehmen auch Spenden an. Sogar kleine Mittel erleichtern uns die Anschaffung von Gerätschaften und Utensilien, z.B. von Klopapier und Flüssigseife der Toiletten. Und wie Sie vielleicht bemerkt haben: Sie finden in mir eine Ansprechpartnerin, die auch Ihren etwaigen kritischen Fragen nicht ausweichen wird.

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Sonntag, 3. August 2014
Siechenhaus (Teil IV)
VII

Ich habe gut reden, nicht wahr? Als ihr Touristenführer, der aus beruflichen Gründen nicht viel wissen darf, breit ich ne Menge Siff aus. Dies ist eine der letzten Eckkneipen in Hochfeld. Nur Flaschenbier. Keine Leitung in den Keller. Und die Theke bleibt trocken, so lange niemand draufkotzt. Wie sie an den Postern und Plakaten des MSV sehen können, eine bekennende Fußballleidenschaft der jungen Betreiber. Öffnet erst am späten Nachmittag, ein- zweimal die Woche. Und lässt auch bekennende Fußballignoranten hinein, wie mich.

Das Siechenhaus liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Vielleicht ahnen sie bereits, um was es sich handeln könnte. Bevor ich ihnen jedoch das Gebäude präsentiere, ist konkreter auf Sprache einzugehen. Seit einigen Jahrzehnten ist sie fast unerheblich geworden. Nicht weil sich junge Leute in ihr austoben, Linguisten Schwierigkeiten haben, den Schöpfungen nachzukommen, sich Lehrer verbittert über eine Rechtsschreibschwäche ihrer Schüler äußern.

Ich frage sie erst gar nicht, was ihrer Meinung nach Sprache ausmacht, die übliche Antwort wäre, dass Sprache im Grunde nichts sei, aber zu etwas dienen könne, besonders zur Kommunikation. Diese Ansicht ist nicht nur unter den meisten Leuten verbreitet, sondern wird auch durch Theorien aufbereitet, deren Urheber keinerlei Interesse an Sprache bekundeten. Dies ist leicht zu erkennen, bereits durch den Themenwechsel, das Ausweichen, das Unverständnis.

Vielleicht war es elegant, den Konstruktivismus durch eine Sprachtheorie zu bereichern, in der es nicht um Sprache, sondern um Kommunikation ging. Dieses Vorgehen hatte einen kybernetischen Grund: Nicht Worte, sondern Zeichen wurden herangezogen. Zeichen gibt es durchaus, z.B. in der Mathematik, dort haben sie auch Bedeutungen, es wäre jedoch aussichtlos, Bezüge unterstellen oder bilden zu wollen. Was lag näher, als diese kommunikativ zu unterschlagen? Die Unangemessenheit führte jedoch dazu, über nichts sprechen zu können, nicht einmal über Sprache! Nur Geplauder und Gesabber. Verstehen sie? Es ist leicht geworden, in einer Straßenbahn vor lauter Schleim und Blasen rettungslos zu ersaufen. Später wurde angeboten: Alles sei Kommunikation! Ja, warum nicht eine Sintflut?


VIII

Warum fällt es schwer, über Sprache zu sprechen? Weil uns, aufgrund der Schulzeit, kaum mehr einfällt als das Regelwerk und die Lexika von Linguisten, die aus der Sprache eine Jurisprudenz mit zahllosen Rechtsfällen werden ließen? Ist Sprache vielleicht zum Traktieren da?

Kultur, ich weiß, die hat mir gerade noch gefehlt! Kultur schafft eine mehr oder weniger idyllische Ordnung, besonders gegenüber der Natur, nicht wahr? Doch sind Beton und Glas metaphysisch, oder auf andere Weise der Schwerkraft entzogen? Und sind sie nicht entstanden, ein kausales Resultat? Was sind das für sonderbare Blasen, Kultur, Natur, die nichts verstehen lassen, nichts als die menschliche Unbeholfenheit in Zeiten der neolithischen Revolution? Der Jungsteinzeit! Hat denn niemand Lust, sich weiterzuentwickeln? Der Gestank eurer alten Felle ist doch kaum noch zu ertragen, auch falls ihr einräumen würdet, die von Insekten zerfressenen Umhänge seien eventuell Bestandteil der Natur.

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Donnerstag, 31. Juli 2014
Siechenhaus (Teil III)
V

Duisburgs Armut ist jedoch nichts Außergewöhnliches. Geringe Einkommen und ein Mangel an bezahlter Beschäftigung, der Begriff Arbeit wurde von Unternehmen und Politik systematisch missbraucht, um hiesige Menschen wenigstens gängeln zu können, zieht sich durch die gesamte Zone, bis in den Osten, nach Dortmund. Um mächtiger zu wirken, hatte man das Gebiet in Metropole umbenannt und die zergliederte Siedlungsstruktur als auch die Kleinkämpfe der Kommunen, die sich bis in die Zeit alter Germanenstämme zurückverfolgen lassen, als besonderes Merkmal ausgewiesen. Fast, denn einen vergleichenden historischen Rückblick hatte man sich verkniffen.

Die sprachliche Willkürlichkeit ließe sich bestenfalls einem Trickster zuschieben. Loki ist als wohlgestaltet und böse beschrieben worden, der durch Schlauheit und Betrug alle anderen übertölpelte. Mit diesem Eingeständnis hätte man allerdings nicht prangen können. In einigen Wissenschaften ist Beliebigkeit, falls Definition darüber steht, jedoch inzwischen üblich, und wenn man der Auffassung folgen würde, für die alles Erkannte erfunden sei, kaum anderes möglich. Der radikale Konstruktivismus ist wie für Arme und das Ruhrgebiet geschaffen!

Die Armut reicht übrigens bis ins exterritoriale Berlin. Ohne Hauptstadtbonus sähe es dort vermutlich schlimmer aus als im Pott. Berlin ist auf Sand gebaut, das Ruhrgebiet auf Schiefer.


VI

Viele Jahrzehnte bevor der Konstuktivismus begann, nicht nur in der Neurologie, sondern auch unter Laien für Aufsehen zu sorgen, hatte Otto Neurath aus wissenschaftstheoretischer Sicht von einem Umbauen eines Schiffes auf hoher See gesprochen. Sein Bild war sprachlich motiviert, nicht durch Messungen von Hirnprozessen, die bei Wahrnehmungen möglich sind. Sieht man von den spärlichen aber durchaus relevanten neurologischen Ergebnissen ab, erfasst die Theorie bzw. das Marketing der Konstruktivisten die eigenen sprachlichen Konstruktionsbedingungen nicht, die Revolution verbreitet kaum mehr als den ängstlichen Atem ihrer Betreiber, die erhaltenen Forschungsgelder nicht wert zu sein. Von jungen Leuten, sie hatte der Konstruktivismus offensichtlich in Erregung versetzt, war in Online-Gruppen zu lesen, dass Erkenntnis tatsächlich von Menschen gemacht wird! Dies war vermutlich die Erste in ihrem Leben.

Man weiß ja wenig. Zumal in Deutschland. Und wer wäre bereit, das Tabu zu brechen, das durch Fragen nach Wirtschaftlichkeit entstanden ist? Wissenschaft und Philosophie, die schufen keine Arbeitsplätze, hinterließen bloß eine Menge von konfusen Leuten, die ökonomisch kaum mehr zu gebrauchen waren, ja, die niemand mehr verstand. Das war doch rausgeworfenes Bildungs-, vor allem aber Steuergeld! Schlichte Lehrbücher, ihre Definitionen und Modelle, was zum Auswendiglernen und kreuzweisem Abfragen, was will man mehr? Alles andere wäre doch esoterisch, oder nicht?

Vielleicht ahnen sie, wie die Seiche entstehen konnte. Auch diese muss nichts Schlechtes sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mit orangenen Flügeln allmählich Schwimmen lernte, in einer Arbeiterkathedrale, dem uralten Hallenbad, dessen Buntglasfenster mit Insignien und Szenen von und aus der Schwerindustrie facettenreich geschmückt waren. Es gab nur ein Becken, das zunächst relativ flach war, sich aber graduell vertiefte. Der Planschbereich, in dem sich die Engel tummeln durften, war durch geflochtene Seile abgegrenzt. Das ist die heutige Wissensgesellschaft.

Oder nehmen sie die Künste. Wenn man als Konsument schon nichts versteht, dann sollten die Werke wenigstens schön und erfreulich sein, oder nicht? Keine musikalischen Ereignisse und Strukturen, sondern Gefühl bzw. ne Menge Feeling, das ist relevant, oder nicht? Mit schrecklichen Werken werden bloß psychologische Experimente ausgerichtet, dabei ist doch bekannt, was sie mögen, oder nicht? Sie wollen sich ihr trübes Leben erhellen und sich dabei pampern lassen, oder nicht?

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Dienstag, 29. Juli 2014
Siechenhaus (Teil II)
IV

Die Auswahl ist schier unermesslich. Stellen sie sich ein Gebäude mit unzähligen Eingängen vor, von denen jedoch keine beschildert sind, nicht einmal mit Nummern. Eine solche Farce wäre bürokratisch durchaus möglich, würde jedoch dem Seviceanliegen der Stadt, um das seit einigen Jahren gerungen wird, zu schroff entgegenstehen.

Vielleicht könnte eine Frage weiterhelfen? Ich nehme für mich zwar nicht in Anspruch, ein Erkenntnisinteresse zu verfolgen, als Touristenführer. Mit einem solchen Motiv hätte ich meinen Job verfehlt. Meine Aufgabe umfasst die marketinggerechte Vermittlung von mir weitgehend Unbekanntem. Ich darf gar nichts wissen, nicht so viel, dass mir eventuell die ereignispädagogische Erregung in den Backen oder zwischen den Zähnen stecken bleibt. Fragen, wer oder was sich die Sieche eingefangen haben mag, das lässt sich von mir aber.

Eine Sieche muss nichts Schlechtes sein. Unterliegt nicht alles der Interpretation? Den Bürgern hatte ihr Gasthaus über Jahrzehnte richtig Spaß gemacht. Je siecher, umso besser! Ein bürgerliches Selbstverständnis, bis es zum Generationenbruch kam.
Eine Offenheit gegenüber möglichen Interpretationen ist von mir methodisch zu gewährleisten. Das Neutralitätsgebot hat allerdings Grenzen. Nicht solche des Geschmacks, derartiges kann ich mir nicht leisten, sondern in Bezug auf mein Vorgehen. Gibt es etwas, das ich sprachlich bedingt ausschließe? Wie stünde es z.B. mit der Auffassung, erst die Sieche würde Ruhm, Ehre und was weiß ich einbringen? Als Touristenführer hätte ich dafür kaum Worte.

Ich habe aber zwischen Sieche und Seiche zu differenzieren. Eine Verwechslung könnte die Angemessenheit gefährden. Also ich betreibe hier wirklich keine Wissenschaft. Aber dass sich in der Kulturwirtschaft mit ihren künstlerischen und angewandten Branchen, von Kultur kann ja keine Rede mehr sein, weil sie längst alles von Menschen gemachte umfasst, dass sich in der Kulturwirtschaft eine breite Seiche entwickelt hat, Kultur- und Kultur wurden durchaus inkompatibel, auch gegenüber Bakterien und Walen, also dass die gattungspezifische Nachfrageorientierung in und um die Künste niemanden verzweifeln lässt, dies hat zu einer Seiche beigetragen, die man eventuell auf eine Sieche zurückführen könnte.

Verstehen sie? Ich habe ja den Verdacht, dass dies niemand mehr versteht! Warum auch. Geht es den Menschen nicht gut dabei? - Im Bundesland der Stadt, das Land hat einen nicht geringen Einfluß auf die untergeordneten Verwaltungsbezirke und Kommunen, hatte ein ministerialer Buchhalter ausmisten lassen. Diese Kombination von ökonomischer Bewertung und landwirtschaftlichem Engagement führte zu einem aufgeräumten Stall, in dem maschinell gemolken und anderes Vieh leicht zu einem Schlachthof verbracht werden kann. Jeder Großbauer hätte dasselbe getan.

Aber ich kann ihnen doch keinen landwirtschaftlichen Betrieb präsentieren? Per Milch- und Fleischgeld von der EU subventioniert? Das wäre doch absurd, oder nicht? Die Stadt vegetiert seit Jahrzehnten in einer ehemaligen Industriezone, in der zwar übers Gärtnern gesprochen wird, sogar über eine lokal zu etablierende Sonderwährung, irgend so einen schebbigen Taler, doch wegen der hiesigen Armut. Mehr als eine erbärmliche Schrebergartenanlage käme auch bei bestem Willen nicht heraus.

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Freitag, 25. Juli 2014
Siechenhaus (Teil I)
I


Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?

Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.

Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ich sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?

Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?


II

Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!

Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.

Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!

Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahren des 2o. Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare - ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten -, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.

Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!

Mit Siechenhaus ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?


III

Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:

Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.

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