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Montag, 18. August 2014
Siechenhaus (gesamt)
mark ammern, 09:40h
SIECHENHAUS
I
Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?
Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.
Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ich sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?
Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?
II
Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!
Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.
Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!
Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahre des 2o. Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare - ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten -, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.
Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!
Mit Siechenhaus ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?
III
Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:
Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.
IV
Die Auswahl ist schier unermesslich. Stellen sie sich ein Gebäude mit unzähligen Eingängen vor, von denen jedoch keine beschildert sind, nicht einmal mit Nummern. Eine solche Farce wäre bürokratisch durchaus möglich, würde jedoch dem Seviceanliegen der Stadt, um das seit einigen Jahren gerungen wird, zu schroff entgegenstehen.
Vielleicht könnte eine Frage weiterhelfen? Ich nehme für mich zwar nicht in Anspruch, ein Erkenntnisinteresse zu verfolgen, als Touristenführer. Mit einem solchen Motiv hätte ich meinen Job verfehlt. Meine Aufgabe umfasst die marketinggerechte Vermittlung von mir weitgehend Unbekanntem. Ich darf gar nichts wissen, nicht so viel, dass mir eventuell die ereignispädagogische Erregung in den Backen oder zwischen den Zähnen stecken bleibt. Fragen, wer oder was sich die Sieche eingefangen haben mag, das lässt sich von mir aber.
Eine Sieche muss nichts Schlechtes sein. Unterliegt nicht alles der Interpretation? Den Bürgern hatte ihr Gasthaus über Jahrzehnte richtig Spaß gemacht. Je siecher, umso besser! Ein bürgerliches Selbstverständnis, bis es zum Generationenbruch kam.
Eine Offenheit gegenüber möglichen Interpretationen ist von mir methodisch zu gewährleisten. Das Neutralitätsgebot hat allerdings Grenzen. Nicht solche des Geschmacks, derartiges kann ich mir nicht leisten, sondern in Bezug auf mein Vorgehen. Gibt es etwas, das ich sprachlich bedingt ausschließe? Wie stünde es z.B. mit der Auffassung, erst die Sieche würde Ruhm, Ehre und was weiß ich einbringen? Als Touristenführer hätte ich dafür kaum Worte.
Ich habe aber zwischen Sieche und Seiche zu differenzieren. Eine Verwechslung könnte die Angemessenheit gefährden. Also ich betreibe hier wirklich keine Wissenschaft. Aber dass sich in der Kulturwirtschaft mit ihren künstlerischen und angewandten Branchen, von Kultur kann ja keine Rede mehr sein, weil sie längst alles von Menschen gemachte umfasst, dass sich in der Kulturwirtschaft eine breite Seiche entwickelt hat, Kultur- und Kultur wurden durchaus inkompatibel, auch gegenüber Bakterien und Walen, also dass die gattungspezifische Nachfrageorientierung in und um die Künste niemanden verzweifeln lässt, dies hat zu einer Seiche beigetragen, die man eventuell auf eine Sieche zurückführen könnte.
Verstehen sie? Ich habe ja den Verdacht, dass dies niemand mehr versteht! Warum auch. Geht es den Menschen nicht gut dabei? - Im Bundesland der Stadt, das Land hat einen nicht geringen Einfluß auf die untergeordneten Verwaltungsbezirke und Kommunen, hatte ein ministerialer Buchhalter ausmisten lassen. Diese Kombination von ökonomischer Bewertung und landwirtschaftlichem Engagement führte zu einem aufgeräumten Stall, in dem maschinell gemolken und anderes Vieh leicht zu einem Schlachthof verbracht werden kann. Jeder Großbauer hätte dasselbe getan.
Aber ich kann ihnen doch keinen landwirtschaftlichen Betrieb präsentieren? Per Milch- und Fleischgeld von der EU subventioniert? Das wäre doch absurd, oder nicht? Die Stadt vegetiert seit Jahrzehnten in einer ehemaligen Industriezone, in der zwar übers Gärtnern gesprochen wird, sogar über eine lokal zu etablierende Sonderwährung, irgend so einen schebbigen Taler, doch wegen der hiesigen Armut. Mehr als eine erbärmliche Schrebergartenanlage käme auch bei bestem Willen nicht heraus.
V
Duisburgs Armut ist jedoch nichts Außergewöhnliches. Geringe Einkommen und ein Mangel an bezahlter Beschäftigung, der Begriff Arbeit wurde von Unternehmen und Politik systematisch missbraucht, um hiesige Menschen wenigstens gängeln zu können, zieht sich durch die gesamte Zone, bis in den Osten, nach Dortmund. Um mächtiger zu wirken, hatte man das Gebiet in Metropole umbenannt und die zergliederte Siedlungsstruktur als auch die Kleinkämpfe der Kommunen, die sich bis in die Zeit alter Germanenstämme zurückverfolgen lassen, als besonderes Merkmal ausgewiesen. Fast, denn einen vergleichenden historischen Rückblick hatte man sich verkniffen.
Die sprachliche Willkürlichkeit ließe sich bestenfalls einem Trickster zuschieben. Loki ist als wohlgestaltet und böse beschrieben worden, der durch Schlauheit und Betrug alle anderen übertölpelte. Mit diesem Eingeständnis hätte man allerdings nicht prangen können. In einigen Wissenschaften ist Beliebigkeit, falls Definition darüber steht, jedoch inzwischen üblich, und wenn man der Auffassung folgen würde, für die alles Erkannte erfunden sei, kaum anderes möglich. Der radikale Konstruktivismus ist wie für Arme und das Ruhrgebiet geschaffen!
Die Armut reicht übrigens bis ins exterritoriale Berlin. Ohne Hauptstadtbonus sähe es dort vermutlich schlimmer aus als im Pott. Berlin ist auf Sand gebaut, das Ruhrgebiet auf Schiefer.
VI
Viele Jahrzehnte bevor der Konstuktivismus begann nicht nur in der Neurologie, sondern auch unter Laien für Aufsehen zu sorgen, hatte Otto Neurath aus wissenschaftstheoretischer Sicht von einem Umbauen eines Schiffes auf hoher See gesprochen. Sein Bild war sprachlich motiviert, nicht durch Messungen von Hirnprozessen, die bei Wahrnehmungen möglich sind. Sieht man von den spärlichen aber durchaus relevanten neurologischen Ergebnissen ab, erfasst die Theorie bzw. das Marketing der Konstruktivisten die eigenen sprachlichen Konstruktionsbedingungen nicht, die Revolution verbreitet kaum mehr als den ängstlichen Atem ihrer Betreiber, die erhaltenen Forschungsgelder nicht wert zu sein. Von jungen Leuten, sie hatte der Konstruktivismus offensichtlich in Erregung versetzt, war in Online-Gruppen zu lesen, dass Erkenntnis tatsächlich von Menschen gemacht wird! Dies war vermutlich die Erste in ihrem Leben.
Man weiß ja wenig. Zumal in Deutschland. Und wer wäre bereit, das Tabu zu brechen, das durch Fragen nach Wirtschaftlichkeit entstanden ist? Wissenschaft und Philosophie, die schufen keine Arbeitsplätze, hinterließen bloß eine Menge von konfusen Leuten, die ökonomisch kaum mehr zu gebrauchen waren, ja, die niemand mehr verstand. Das war doch rausgeworfenes Bildungs-, vor allem aber Steuergeld! Schlichte Lehrbücher, ihre Definitionen und Modelle, was zum Auswendiglernen und kreuzweisem Abfragen, was will man mehr? Alles andere wäre doch esoterisch, oder nicht?
Vielleicht ahnen sie, wie die Seiche entstehen konnte. Auch diese muss nichts Schlechtes sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mit orangenen Flügeln allmählich Schwimmen lernte, in einer Arbeiterkathedrale, dem uralten Hallenbad, dessen Buntglasfenster mit Insignien und Szenen von und aus der Schwerindustrie facettenreich geschmückt waren. Es gab nur ein Becken, das zunächst relativ flach war, sich aber graduell vertiefte. Der Planschbereich, in dem sich die Engel tummeln durften, war durch geflochtene Seile abgegrenzt. Das ist die heutige Wissensgesellschaft.
Oder nehmen sie die Künste. Wenn man als Konsument schon nichts versteht, dann sollten die Werke wenigstens schön und erfreulich sein, oder nicht? Keine musikalischen Ereignisse und Strukturen, sondern Gefühl bzw. ne Menge Feeling, das ist relevant, oder nicht? Mit schrecklichen Werken werden bloß psychologische Experimente ausgerichtet, dabei ist doch bekannt, was sie mögen, oder nicht? Sie wollen sich ihr trübes Leben erhellen und sich dabei pampern lassen, oder nicht?
VII
Ich habe gut reden, nicht wahr? Als ihr Touristenführer, der aus beruflichen Gründen nicht viel wissen darf, breit ich ne Menge Siff aus. Dies ist eine der letzten Eckkneipen in Hochfeld. Nur Flaschenbier. Keine Leitung in den Keller. Und die Theke bleibt trocken, so lange niemand draufkotzt. Wie sie an den Postern und Plakaten des MSV sehen können, eine bekennende Fußballleidenschaft der jungen Betreiber. Öffnet erst am späten Nachmittag, ein- zweimal die Woche. Und lässt auch bekennende Fußballignoranten hinein, wie mich.
Das Siechenhaus liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Vielleicht ahnen sie bereits, um was es sich handeln könnte. Bevor ich ihnen jedoch das Gebäude präsentiere, ist konkreter auf Sprache einzugehen. Seit einigen Jahrzehnten ist sie fast unerheblich geworden. Nicht weil sich junge Leute in ihr austoben, Linguisten Schwierigkeiten haben, den Schöpfungen nachzukommen, sich Lehrer verbittert über eine Rechtsschreibschwäche ihrer Schüler äußern.
Ich frage sie erst gar nicht, was ihrer Meinung nach Sprache ausmacht, die übliche Antwort wäre, dass Sprache im Grunde nichts sei, aber zu etwas dienen könne, besonders zur Kommunikation. Diese Ansicht ist nicht nur unter den meisten Leuten verbreitet, sondern wird auch durch Theorien verbreitet, deren Urheber keinerlei Interesse an Sprache bekundeten. Dies ist leicht zu erkennen, bereits durch den Themenwechsel, das Ausweichen, das Unverständnis.
Vielleicht war es elegant, den Konstruktivismus durch eine Sprachtheorie zu bereichern, in der es nicht um Sprache, sondern um Kommunikation ging. Dieses Vorgehen hatte einen kybernetischen Grund: Nicht Worte, sondern Zeichen wurden herangezogen. Zeichen gibt es durchaus, z.B. in der Mathematik, dort haben sie auch Bedeutungen, es wäre jedoch aussichtlos, Bezüge unterstellen oder bilden zu wollen. Was lag näher, als diese kommunikativ zu unterschlagen? Die Unangemessenheit führte jedoch dazu, über nichts sprechen zu können, nicht einmal über Sprache! Nur Geplauder und Gesabber. Verstehen sie? Es ist leicht geworden, in einer Straßenbahn vor lauter Schleim und Blasen rettungslos zu ersaufen. Später wurde angeboten: Alles sei Kommunikation! Ja, warum nicht eine Sintflut?
VIII
Warum fällt es schwer, über Sprache zu sprechen? Weil einem, aufgrund der Schulzeit, kaum mehr einfällt, als das Regelwerk und die Lexika von Linguisten, die aus der Sprache eine Jurisprudenz mit zahllosen Rechtsfällen werden ließen? Ist Sprache vielleicht zum Traktieren da?
Kultur, ich weiß, die hat mir gerade noch gefehlt! Kultur schafft eine mehr oder weniger idyllische Ordnung, besonders gegenüber der Natur, nicht wahr? Doch sind Beton und Glas metaphysisch, oder auf andere Weise der Schwerkraft entzogen? Und sind sie nicht entstanden, ein kausales Resultat? Was sind das für sonderbare Blasen, Kultur, Natur, die nichts verstehen lassen, nichts als die menschliche Unbeholfenheit in Zeiten der neolithischen Revolution? Der Jungsteinzeit! Hat denn niemand Lust, sich weiterzuentwickeln? Der Gestank eurer alten Felle ist doch kaum noch zu ertragen, auch falls ihr einräumen würdet, die von Insekten zerfressenen Umhänge seien eventuell Bestandteil der Natur.
IX
Ich darf Sie herzlich in unserem gerontologischen Klinikum begrüßen. Die Sonne scheint freundlich durch die großen Fenster und lässt uns einen hellen Blick in Ihre Zukunft werfen. Ältere Mitbürger sind in unserer Gesellschaft seit Längerem keine Ausnahmen mehr. Und dieser Prozess kann sich noch verstärken. 2060 wird es, einer Berechnung des Statistischen Bundesamts nach, in Deutschland eine geringere Bevölkerungdichte geben, ceteris paribus, als nach dem Zweiten Weltkrieg. Und fast alle werden Greise sein. Wir haben uns entschlossen, diese demografische Entwicklung aktiv zu begleiten, soweit die gesetzlichen Vorgaben dies zulassen werden.
Wenn Sie vorgesorgt haben, geben Sie uns die Möglichkeit, auch Sie zu einzubeziehen. Sogar eine Mitbestimmung haben wir angelegt. Ein Ältestenrat beteiligt sich an unserem Engagement. Leider fällt es diesem Personenkreis etwas schwer, sich an die Rolle zu gewöhnen. Ein typisches Krankheitbild wie Demenz schränkt die Entscheidung- und Handlungkompetenz ein. Aber die Patienten finden auf allen Etagen bereitwillige Helfer, die unterstützen. Wir sind übrigens vielsprachig. Wenn Ihnen die Viet-Muong-Gruppe geläufig ist, oder Palaung-Wa, dann können Sie nach Herzenlust mit unseren mandeläugigen Mitarbeiterinnen kommunizieren. Dies ist ja die Grundvoraussetzung, um sich wohlfühlen zu können, eine offene aber nette Kommunikation.
Um Ihnen zu demonstrieren, wie zukunftweisend unsere Einrichtung ist, möchte ich Ihnen die Konsequenz vor Augen halten, die sich aus einer fehlenden Vorsorge ergeben: Zustände wie im Mittelalter! Das darf nicht sein! Aber ich will sie nicht schrecken. Wir sind ja alle vernünftig. Alles kein Problem. Ist es kein Traum, sich von mandeläugigem Liebreiz im Alter verwöhnen zu lassen?
Als gerontologisches Klinikum sind wir spezialisiert auf Erkrankungen, die im Alter auftreten. Es ist bekannt, dass, je älter die Menschen werden, auch die Leiden im Durchschnitt zunehmen. Weshalb sich die Menschheit dies antut, kann ich Ihnen nicht sagen, wir haben uns aber entschlossen, darauf zu reagieren und Ihr den Abschied von der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten, mit allem medizinischen und menschlichem Raffinement, das sich von uns, dem Klinikum und seinen Mitarbeitern, aufbieten lässt.
Ich gehöre zum Team Öffentlichkeit und werde Sie durch einige Abteilungen führen. Nicht alle sind für Sie frei zugänglich, um die dort eingeschobenen Patienten nicht unnötig in Unruhe zu versetzen. Wir nehmen auch Spenden an. Sogar kleine Mittel erleichtern uns die Anschaffung von Gerätschaften und Utensilien, z.B. von Klopapier und Flüssigseife der Toiletten. Und wie Sie vielleicht bemerkt haben: Sie finden in mir eine Ansprechpartnerin, die auch Ihren etwaigen kritischen Fragen nicht ausweichen wird.
X
Luxus können Sie bei uns nicht erwarten. Bitte folgen Sie mir die Treppe hinauf. Die beiden Fahrstühle müssen den Patienten und dem Personal freigehalten bleiben. Unter einem solchen Haus gibt es nur die Straße. Aber hier geht es hoch bis in den Himmel! Ob wir Zugang erhalten, ist aber noch ungewiss. Ich warte noch auf eine SMS. Als Himmel benannten wir die Hospizstation, oben unterm Dach. Erinnert sich vielleicht jemand von Ihnen an einen rosaroten Horizont im Winter, kurz vor Weihnachten, und an Worte: Dort backen die Engel Plätzchen? Ein solches Rosarot, leicht ins Orange tendierend, haben wir als Dekorfarbe gewählt. Kein Luxus, nur eine Nettigkeit, um das Sterben zu erleichtern. Je älter unsere Patienten werden, um so präsenter wird ihr Langzeitgedächtnis. Und wenn unsere Damen und Herren verwirrt fragen, wo ich bin ich, lässt sich antworten, im Himmel. Eine Labsal, solche Worte.
Unsere finanzielle Lage korrespondiert mit der Armut der Stadt. Dies ist leider so. Sie können auch für Farbe spenden, oder Pinsel. Abnutzungerscheinungen sind nicht zu vermeiden. Farben blättern wie ein Wald im Herbst. Aber wir tun das Mögliche, um eine solche Phase nicht lange andauern zu lassen. Ein Ausfall des Kurzzeitgedächtniss von Patienten hat in unserem Haus immer wieder zu erstaunlichen Geschehnissen geführt. Eine Dame wurde auf der Straße angetroffen, die in Hemdchen, mit Handtasche und in Badelatschen den Bus nach Ostenpreußen suchte. Vorsicht, die Schranke wurde eingerichtet, damit niemand die Treppe hinunterfällt. Unter einigen Patienten sind Selfies in Mode gekommen. Wenn sie auf ihre Handspiegel, oder auf hereingebrachte Mobiles starren, verlieren sie leicht die Orientierung. Neue Hüften, die sind Luxus.
Als die Sozial- und Krankenberechnungen eingeführt wurden, blieben vielen Menschen nach dem Arbeitleben noch etwa fünf bis zehn Jahre. Inzwischen hat sich die Zeit des Ruhestands im Durchschnitt verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Mit dem Altern der Gesellschaft wird das Modell untragbar. Es bleibt kaum anderes übrig, als die Versicherungleistungen sukzessive zu reduzieren und bei einer bestimmbaren Altergrenze einzustellen. Ihr Weg könnte vom Himmel auf die Straße führen, oder in ein Gebüsch. Ich bin davon überzeugt, dass wir zukünftig viele Menschen draußen sterben sehen.
Dies hier ist übrigens die Knochenstation, samt der Fachabteilung Orthopädie, die von einigen Patienten scherzhaft Rollbrettausgabe genannt wird. Über ein mangelndes Selbstbewusstsein der alten Menschen können wir in der Regel nicht klagen.
XI
Aber ich hab doch einen Anspruch! Mein ganzes Arbeitsleben hab ich eingezahlt. Wie sie zu Recht betonten, in Versicherungen! Da kann mir niemand mit einem Rollbrett kommen! Ich bestehe auf meinem Recht! Mir ist völlig egal, wo das Geld herkommt. Entweder Recht, oder ich geh auf die Barrikaden!
Wenn sie meinen. Aber ihr Geld ist dann schon futsch! Ich hab mir das mal erklären lassen. Was sie einzahlten, ging an die älteren Generationen. Was sie in Zukunft bekommen könnten, legen die Jungen ein, eventuell. Und was ausem Aufbau von Finanzen werden kann, hat doch die letzte Krise, diese Finanzkriese gezeigt. Nix.
Beruhigen Sie sich doch. Sie beide beschreiben Probleme, doch eine Lösung ist nicht in unserem Haus, vielleicht nicht einmal durch die Politik zu finden. Wir können nur darauf hinweisen, dass mittelalterliche Verhältnisse leichter und rascher eintreten können, als gemeinhin angenommen wird. Frappierend ist: Die Zukunft hält keine Generationen mehr vor.
2060 bin ich längst tot. Was soll das! Ich will nicht 2060 mein Recht, sondern jetzt, also bald, sobald man mich aufhören lässt. Und dann will ich mein Geld auskosten und lachen, über all diejenigen, die noch arbeiten müssen. Diese armen dreckigen Schweine!
Jetzt ist aber gut! Was soll denn die Dame von uns denken? Sie und der andere Herr haben Ihre Meinung kundgetan. Wo soll das hinführen? Ich meine, Sie hat doch geantwortet, da muss man doch nicht schließlich noch rumpöbeln.
XII
Leben und Tod auf der Straße gehört bereits zum Alltag, auch hier in Hochfeld. Eine alte Frau zog jahrelang mit zerfetzter Kleidung, einigen Tüten und machmal mit einem klapprigen Handwagen durch den Stadtteil. Sie starb unter den Arkaden, einer ehemaligen Einkaufsmeile, die von Schnellimbissen, einem Internetcafé mit Wechselstube und einem Spielsalon genutzt wird. Die Müllabfuhr fand sie an einem Morgen, wie aus einer Pressenotiz zu lesen war, den Nacken zurückgebogen, mit offenem Mund, den Hinterkopf im Rinnstein. Und rief einen Rettungswagen. Es war zu spät. In Duisburg kein Einzelfall. Doch dies wird erst der Anfang sein, wenn solche Vorkommnisse in größerer Anzahl geschehen. In Straßen, Hauseingängen, in Parks: in massenhafter Variation.
Danke für die Unterstützung. Ich benötige Sie später noch einmal. Sie müssen mir in Sachen Kultur helfen. Wir haben sie im Klinikum abgeschafft! Auch Natur ist nicht mehr Natur. Aber ganz verstanden habe ich diese Vorgänge nicht, denn Künste und Traktate werden von unseren Patienten gepflegt. - Sie müssen wissen, dass eine bereichernde Beschäftigung, ja eine Herausforderung für die alten Menschen lebenwichtig ist, um nicht vorzeitig zu verkümmern. Aber zurück zu den Knochen und Gelenken: Im Laufe der Jahrzehnte verschleißt nicht nur das menschliche Skelett, es können heftige Reumaschübe, Knochenverformungen, sogar ein Zerbröseln auftreten. Wunder sind leider nicht zu vollbringen, auch nicht von unseren Ärzten. Eine Heilung, die normalerweise mit einer Erkrankung assoziiert wird, ist nur in seltenen Fällen möglich. Alterbedingte Prozesse sind unumkehrbar. Wir sehen es deshalb als unsere Aufgabe an, unseren Patienten das Leiden zu erleichtern. Dabei helfen auch kuriose Geräte wie dieser Galgen, mit dem das Skelett in der Länge gestreckt werden kann.
XIII
Sie hatten uns vom Himmel im Haus erzählt. Ist die Klinik eine christliche Einrichtung, gehören Sie zu einer Kirche? Gibt es keine Gleichbehandlung?
Genau das wollte ich auch schon längst fragen!
Nein. Wir mussten uns entscheiden. Die Simulation eines muslimischen Paradiess hätte uns überfordert. Eine Gleichbehandlung, die über religiöse Differenzen hinausweist, wäre unserem Anliegen und der typischen Degeneration von Patienten zuwidergelaufen. Wir hätten lediglich Sterbebetten anbieten können. Es gibt muslimische Einrichtungen, wie dort verfahren wird, ist mir jedoch unbekannt.
Dann sind sie nicht kirchlich, und trotzdem behandeln sie nicht alle gleich? Ist das nicht skandalös? Die Klinik kann doch nicht einfach gegen Gesetze verstoßen, so wie es ihr passt! Nicht dass ich hier für den Islam spreche, doch wenn es ums Recht geht, dann werde ich fuchsteufelswild. Dann müssen halt alle in Reih und Glied … !
Unser Klinikum macht ein Angebot, jedoch nicht für jeden. Das wäre von uns nicht leistbar.
XIV
Ist das von Ihnen entwickelte Scenario aber realistisch? Ich kenne die von Ihnen angeführte Schätzung, sie stammt vom Ende des ersten Jahrzehnts. Inzwischen ist es jedoch zu einem Einwanderungsboom von Akademikern aus EU- und anderen Staaten gekommen. Die Wirtschaft ist erfreut und verlangt nach mehr. Ich gebe Ihnen Recht, dass die demografische Entwicklung unerfreulich ist, aber der Zuzug blieb in ihrer Erklärung unberücksichtigt.
Danke für diese interessante Frage. Was wirklich sein wird, ist jedoch auch mit den aktuellen Zahlen schwer zu beantworten. Meiner Kenntnis nach reisen doppelt so viele Männer wie Frauen ein, um in Deutschland, in München und Hamburg zu arbeiten. Duisburg hat nur Leerstand zu bieten. Und weil Alterungprozesse von Gesellschaften im gesamten europäischen Raum zu beobachten sind, könnten innereuropäische Migrationbewegungen nicht zu einem Tendenzwechsel beitragen. Der Zuzug lässt die deutschen Sozial- und Krankenkassen weniger darben. Doch erforderliche Rücklagen werden nicht gebildet, alternative Konzepte nicht angeboten. Der Blick ist auf die Gegenwart gerichtet, auf die jeweilige Klientel. Eine erkennbare demografische Perspektive fehlt.
Wozu wohl auch eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehören würde. Ist das nicht so, dass besonders Deutschland versagt? Nicht mal die Kitas reichen aus! Alle reden von Familie, aber was getan wird, bleibt herzlos. Ich bin richtig sauer!
XV
Vor dem Fenster wippen und schaukeln Zweige. Ein sachter Wind könnte durch die Siechenhausstraße ziehen. Die kleinen schmalen Blätter blinken gelegentlich im Sonnenlicht. Aber Demografie ist nicht mein Thema. Leute hin, Leute her. Klar. Falls es mit der Menschheit zu Ende geht, dann geht es mit der Menschheit zu Ende. Was für ein lahmer Scheiß sich durch mein Hirn windet. Ich gehöre zu den Menschen, den Singles, die sich einer artgerechten Reproduktion verweigern. Gebt dem Ende eine Chance!
Es kommt nicht auf den Einzelnen an. Auch wenn ich Single bin. Ein Einzelner bin ich nicht. Der Einzelne schon gar nicht. Durchschnitte sind relevant. So weh dies auch tun mag. Einzelne sind völlig unerheblich! Es gibt sie nicht einmal! Allenfalls in einer degenerierten Fantasie. Um einen Einzelnen zu erhalten, müsste ich ihn aus einer Gesellschaft schneiden, als wäre diese ein Kuchen, ein Stück auf den Teller heben, ohne ein Stück zu erhalten. Das erhaltene Stück wäre nämlich ein Einzelnes, kein Stück von etwas. Es wäre eine Monade. Ohne Teller. Die durch ihre leere Einzelheit irrt. Und doch war und ist dies der Traum vieler Individualisten: Ich, sonst nichts.
Aber Menschen sind auch keine Kuchenstücke von etwas, z.B. einem Ganzen. Ein Single wäre ein Ganzes, jedoch nicht die Gesellschaft. Dort wuselt es nur. Wie in einem System von Systemen? Verifizieren ließe sich dies nicht. Ein Riesenaufwand, schematisch über Bände verteilt, nach Begriffen geordnet, letztlich beliebige Diktionen. Aber hört sich systematisch an! Sind wir denn alle nur blöd?
Auch als bekennender Individualist muss man keineswegs intelligent sein. Oder über Wissen verfügen, gar kreativ gestalten können. Ich blasen reicht. Und dabei die Lala aufdrehen, bis zum Hörsturz. Dies geschieht in Massen, hier im Stadtteil. Der Volumenregler als Garant der Iche. Und eventuell der Selbste, falls man grammatisch so weit vorgedrungen ist. Nein. Es lohnt einfach nicht, es lohnt nicht.
XVI
… Hallo! Möchten Sie mit uns ein Stockwerk höher steigen? Wir wollen zu den Innereien. Sie starren dort auf die Akazie. Es handelt sich übrigens um ein Mimosengewächs, wie man mir bereitwillig erläuterte.
Ich weiß gar nicht wo ich war. Ich glaub, ich hab den Siechenwind gespürt.
Vielleicht waren Sie im Himmel?
Ich steige ihnen wirklich sehr gerne nach!
Ich brauche sie noch, wie Sie wissen. - So, auf gehts! Bitte folgen Sie mir alle. Die Station, die uns erwartet, ist die der Inneren Medizin. Und Vorsicht, auch dort gibt es oben eine Schranke.
XVII
Nicht nur Knochen und Gelenke, auch Herz, Kreislauf und Blutgefäße altern. Herzinfakte und Schlaganfälle können resultieren, dies sogar jeweils mehrfach. Und bei nicht wenigen unserer Patienten sind auch die Augen betroffen. Unsere Station für Ophthalmologie wurde ebenfalls hier untergebracht. Der graue Star ist eine typische Altererkrankung, die mit einer Linsentrübung einhergeht. Dies hat nichts mit Halloween zu tun. Der geäußerten Bitte eines jungen Besuchers, der Oma doch bitte die Kontaktlinsen zu entnehmen, konnten wir leider nicht entsprechen. Schwierigkeiten mit den Augen können jedoch auch durch andere Erkrankungen entstehen, z.B. durch Diabetes.
Die altersbedingte innere Medizin hat derart viele Fachgebiete, dass wir sie gar nicht alle berücksichtigen können. Das Haus ist zu klein. Unter Umständen müssen Patienten in andere Häuser verlegt werden, damit eine Spezialbehandlung erfolgen kann. Bei uns hat sich der Begriff Tournee herausgebildet, um den besonderen Aufwand etwas zu entlasten. Nicht alle Patienten kehren zurück.
Der Tod ist in einem Haus wie diesem allgegenwärtig, ebenso die Gefahr, ihn nur als physiologisches und technisch messbares Ereignis wahrzunehmen, um Distanz zu ermöglichen, nicht erfasst und als Happen verschlungen zu werden. Die Besonderheit unseres Hauses ist, Sterben als Lebenereignis zuzulassen und den Tod als -ende zu akzeptieren. Die ist keineswegs leicht. Nicht wenigen Menschen, vor allem Besuchern, kräuseln sich die Nackenhaare und laufen Schauer den Rücken hinab, sobald auch nur ein Wort Tod fällt. Hinzukommt die emotionale Betroffenheit, jemanden aus dem engeren Umfeld zu verlieren. Eine solche Erregung kann sogar zu einer Schnappatmung und Herzattacke führen, Ereignisse, die eventuell erst im eigenen Todkampf enden. Trauergespräche gehören deshalb von Beginn an zu unserem Angebot.
Es gab sogar die Idee, von einigen unserer Patienten, die eine Arbeitgruppe gebildet hatten, den Oberbürgermeister zu einem Trauergespräch einzuladen. Leider gibt es bislang aus dem Rathaus keine Reaktion. Anlass war nicht die Love-Parade-Katastrophe oder eine der vielen Haushaltsperren, sondern sein Einspruch gegen eine künstlerische Installation, die bereits monatelang mit dem Künstler, dem hiesigen Museum und dem Bauamt entwickelt worden war. Ein Akt, wie beim Ausknipsen eines Lungeautomaten. Es fiel sogar das Wort Euthanasie. Ich glaube, ich sagte bereits, dass unsere Patienten nicht an mangelndem Selbstbewusstsein leiden?
XVIII
Habe ich Sie erschlagen? Sie dürfen gerne Fragen stellen oder Anmerkungen machen.
Ja nee. Was Sie vorstellen, klingt irgendwie parallel. Die Realität sieht doch ganz anders aus, also die normale. Ich verstehe das nicht. Man muss doch die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren. Sie können doch nicht einfach die Insassen, also die Patienten auf Tournee schicken. Das ist doch völlig absurd. Hat denn hier niemand Würde?
Mit welcher Wahrheit?
Wahrheit? Na, mit dem Tod!
Gibt es den? Was ist für Sie Tod?
Jetzt wundere ich mich aber. Sie haben doch selber über den Tod gesprochen. Er ist doch eine Tatsache. Ich frage Sie, was kommt denn Ihrer Ansicht nach nach dem Tod?
Die Beerdigung.
Sonst nichts? Ich meine den Tod, diese Auslöschung, dieses Nichtsein, sowas muss man doch ernst nehmen. Diesen Blick in die furchtbare Leere. Den gilt es doch auszuhalten, damit muss man sich doch auseinandersetzen. Das ist doch ein Schrecken!
Glauben Sie?
Woran?
An den Schrecken.
Hhaaaa, ich blicke nicht mehr durch.
Das Wort Tournee wurde von einer ehemaligen Tänzerin eingeführt, mit leiser feiner Stimme, als sie zu einer Spezialbehandlung nach Düsseldorf aufbrechen musste. Einige Wochen später nutze es ein Rockopa. Ihn, glaube ich, hat man bis in den Himmel gehört. Seitdem zählt es zum Wortschatz vieler unserer Patienten und wird in der Regel mit einem Lächeln geäußert. Die meisten Menschen sind in einer Konzert- und Fanwelt aufgewachsen. Nun, im Alter, gehen Sie mit rosa Wangen selber auf Tournee. Was ließe sich dagegen sagen?
Und nach der Beerdingung, was kommt dann? Ich finde, dass mein Vorredner nicht ganz unrecht hat. Der Tod ist doch wie ein großes schwarzes Loch. Wenn ich da reinfalle, weiß ich nicht, was dann passiert. Das macht doch den tiefen Ernst aus.
Die Verwesung.
Was? Verwesung? Was soll das bedeuten? Leugnen sie den Tod?
Entschuldigung, wenn ich eingreife, aber sie beide verwechseln etwas. Das einzige Sein, auf das sich Worte Tod beziehen könnten, wäre ein Lebensende. Lassen sie sich von der Sprache keinen Bären aufbinden, kein Ungeheuer mit bleckenden Zähnen und rollenden, rotunterlaufenen Augen. Zu glauben, bleibt ihnen weiterhin frei, aber bitte nicht an eine solche Bestie.
XIX
Aber nehmen wir mal hypothetisch an, Sie hätten Recht und der Tod wäre nur ein Lebensende, dann könnte ich jenem Knipser, Ihrem Oberbürgermeister, einwandfrei zustimmen. Es wird halt ausgeknipst. Fertig. Ein Tod wäre ja nicht schlimm.
Ich darf, ja? - Warum lassen Sie nur emotionale Extreme zu? Im Alter beschäftigt das Ableben und seine Unvermeidbarkeit ohnehin. Der Verfallprozess ist jedoch mit einem Ausknipsen nicht vergleichbar. Vorzeitig ein Ende zu setzen, willkürlich, lässt den Agierenden zu einem Schreckgespenst werden, vor dem sich eine Stadt hüten könnte. Ich würde versuchen, die Umstände einzubeziehen.
Ein echt grausames Thema. Ein frustrierendes. Aber vielleicht haben sie Recht. Mit einem Wust an Gefühlen kommt man einfach nicht weit. Ach, ist das der Zeitpunkt, an dem die Trauer beginnt?
Beginnen kann.
XX
Hat noch jemand Fragen? Ich weiß, wie aufreibend die Sache ist. Und leicht machen wir es Ihnen wohl auch nicht. Doch bevor es in den nächsten Stock geht, wäre ich froh, wenn die gröbsten Erschwernisse abgebaut sind.
Geht es jetzt in den Himmel?
Nein. Noch nicht. Eine Etage höher erwartet Sie die Neuropsychiatrie. Oben ist keine Schranke, sondern eine Panzerglastür. Wie stets? Hat jemand von Ihnen Angst? Nein? Gut. Ich darf mit dem Schlüssel vorausgehen? Dort ist auch unsere Forschungabteilung untergebracht. Uns beschäftigt die Frage nach dem Weg in die demente Gesellschaft! Kommen Sie? Außerdem wird uns erläutert werden, wie es in unserem Haus um Natur und Kultur bestellt ist.
XXI
Oh nein!
Ich habs genau gesehen. Der Fuß …
Hallo? Wir benötigen dringend eine Notfallversorgung. Auf Höhe der Inneren, im Treppenhaus! Zwei Besucher sind auf dem Anstieg zur Neuropsychiatrie gestürzt.
… Der Fuß des Mannes rutschte ab. Ich stand direkt daneben. Und sein Oberkörper kippte nach vorn. Seine Arme wedelten, und ich hatte Glück, nicht getroffen …
Das darf doch nicht wahr sein. Vermutlich die Anstrengung. Eventuell müssen wir umdisponieren. Ich hoffe, lassen Sie mich bitte durch, dass keine bleibenden Schäden entstanden sind. Können Sie die Beine bewegen? Und die Füße? Und Sie?
… Ich wurde zum Glück nicht getroffen, doch er fiel zurück und schlug der Dame ins Gesicht, also wohl nicht absichtlich …
Hilfe habe ich bestellt. Sie wird umgehend eintreffen. Bleiben Sie bitte auf dem Boden. Wenn es möglich ist, legen Sie sich hin. Keine ruckartigen Bewegungen! Entspannen Sie die Muskeln. Gleich wird man Ihre Knochen und Gelenke prüfen können. … Ja, hier auf der Treppe. Sie nehmen die beiden mit auf die Station? Und Sie halten mich auf dem Laufenden? … Dann wird es das Beste sein, wenn wir ins Erdgeschoss fahren. In der Kantine gibts Kaffee. Hören Sie? Wir fahren, sobald Hilfe eingetroffen ist, hinab in die Kantine und trinken erst mal Kaffee, was halten Sie davon? … Bei Notfällen dürfen wir den Aufzug benutzen.
XXII
Irgendwann musste so etwas geschehen. Na ja, würde. Die Leitung sollte sich schnell etwas einfallen lassen, um weitere Unfälle zu vermeiden. Solche Öffentlichkeittouren sind anstrengend. Treppauf, treppab. Und das Stehen. Huuuaaar. Was machen wir jetzt mit den Leuten?
Die trinken erst mal Kaffee. Ihre Idee war gut. Schauen sie, wie aufgeregt die Touristen hantieren. Etwas Beruhigung täte auch ihnen gut. Sie bekommen bald eine Nachricht aus der Knochenstation. Und die beiden Besucher werden zu uns stoßen. Vielleicht sollten wir die Führung in der Kantine zu Ende bringen? Erzählen lässt sich auch hier. Haben sie nicht ein paar hübsche Bilder, die man an die Wand klatschen könnte?
Wunderbar! Eine hübsche Klatsche. Wir haben irgendwo Dias und einen Projektor. Das wird gehen. Ich ruf mal bei der Technik an.
Die bedauerswerte Dame.
Hups. - Ja, hier …
XXIII
Ich verabschiedete mich mit einem Päckchen Tabak in der Hand, um in den Innenhof des Klinikums zu wechseln. Eine möglich gewordene Auszeit, abseits der Geräusche, hatte den Drang nach Nikotin verstärkt. Zumeist war es in dem Karree ruhig geblieben, auch falls sich mehrere Personen eingefunden hatten. Als ich hinaustrat, schritt jemand gegenüber des Kantinenzugangs die Fensterwand entlang.
Bald, dachte ich, wird der Bus eintreffen. Ich zündete meinen Dreh an. Lange könnte der Fahrer nicht auf die Touristen warten. Der Rest des Tages muss kompakt gestaltet werden. Ich hatte bei meinem anfänglichen Vortrag nicht den Eindruck gewonnen, auf Interesse an Worten Natur Kultur gestoßen zu sein. Blabla.
In der Kantine baute jemand einen Bock für den Projektor auf. Das Glas spiegelte, nur Umrisse waren zu erkennen. Plötzlich wurde ein Vorhang zugezogen. Ich drückte den krummen Rest im Außenascher aus.
XXIV
… Lieben Dank für die nette Unterstützung, aber können Sie den Vorhang aufziehen? Dies war ein Test. Wir hatten zu prüfen, ob die Verdunkelung für die Projektion ausreicht. Konnten Sie alle etwas sehen? Ja? Wunderbar! Ich warte noch auf eine telefonische Rückmeldung aus der Knochenstation. - Aahh, da sind ja beide. Und Sie können sogar gehen!
Wie ungeschickt, und rabiat. Erst fällt er, dann schlägt er um sich. Hab ich ein blaues Auge? Aber er hat sich ja selber wehgetan. Sie setzen sich nicht neben mich! Haben sie gehört?
Ich kann mich bloß nochmals entschuldigen. Bin abgerutscht. Ich versteh das selber nicht. Es tut mir sehr leid.
Der Schrecken war größer als die Verletzungen. Wir humpeln zwar beide etwas, doch gebrochen ist nichts. Haben sie noch Sitzplätze für uns, am besten an verschiedenen Seiten?
XXV
Uns fehlt leider ein Medienzentrum, ebenso ein bequemer Kinosaal. Wenn unser Alten- und Pflegeheim genehmigt und errichtet ist, vielleicht können wir Ihnen den gesamten Komplex in einem Film präsentieren. Und Sie hätten es gemütlich wie zu Hause, wären aber in Gesellschaft. Bis dahin müssen Sie jedoch, nach dem heutigen Unfall, mit unseren Dias Vorlieb nehmen. Wir sind bislang nur ein Klinikum.
Eine Neuropsychiatrie wurde eingerichtet, um klären zu können, ob kognitive Beschwerden physische oder psychische Bedingungen haben. Dies lässt sich von außen nicht abschätzen, ist jedoch die Voraussetzung für mögliche Behandlungen. Typisch fürs Alter sind physisch bedingte Ablagerungen oder Durchblutungstörungen im Gehirn und psychisch bedingte Depressionen.
Als überregional renomiertes Demenzentrum untersuchen wir hier in Duisburg auch besonders schwere Fälle. Die Station kann deshalb nur abgeriegelt betrieben werden. Die Belastung wäre für andere Stationen durch Gedächtnisverluste von Patienten oder krasse Stimmungwechsel zu groß. Patienten, die in OP-Säle eindringen, um ihre Brille zu suchen, oder einen Freund aus Jugendzeiten, der sich dort versteckt habe, die im Flur einen Strip-Tease veranstalten, wie an einem FKK-Strand, oder Leute mit den Worten anfahren, sie hab ich schon mal gesehen, sie Schuft, sind im Betrieb wenig hilfreich. Ich warne jedoch vor Kurzschlüssen. Bekanntheitgrad und Renommee geben keine Auskünfte über Qualität! Eine solche wäre durch Autorität oder Marketingfloskeln gar nicht vermittelbar. Ich betone diesen eventuell unscheinbaren Unterschied, weil er in eine Demenz hineinreicht, die alltäglich ist. - Sie machen uns auf einige weitere Beispiele aufmerksam?
Gerne. Demenz beginnt mit kognitiven Beeinträchtigungen, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken können. Dazu gehören Verwechslungen von Imaginärem und Wirklichem. Imaginäres wie einen Traum wirklich werden zu lassen, ist aus logischer Sicht nicht möglich, auch gar nicht erforderlich, weil Imaginäres, als Imaginäres, längst wirklich wäre. Oder eine Verwechslung von Sprache und Gegenstand: Dass sich eine Idee bzw. ein Begriff verkörpert, klingt vielleicht für manche Assoziation angenehm fließend, wäre jedoch gleichfalls, ohne weitere Zusatzannahmen, verfehlt. Bestenfalls ließe sich fragen, was geraucht wurde. Wenn einfache Differenzierungen entfallen, hat eventuell eine Demenz Einzug gehalten. Zu berücksichtigen wäre, ob relevante Fähigkeiten zuvor erworben wurden.
Danke. Die Alltagerfahrungen dienen als Ausgang für unsere Demenzstudien. Lediglich nach anerkannten Krankheitbildern vorzugehen, wäre uns in der Forschung zu wenig. Uns interessieren graduelle Veränderungen, die vom Alltag bis in ein Stadium reichen, in dem eine Teilnahme an diesem ohne aufwendige Pflege nicht mehr leistbar ist. Ebenso eine gesellschaftliche Zukunft, die durch Demenz gepägt sein wird, ob in Wirtschaft oder Politik.
XXVI
Spannender als unsere Forschungen könnten für Sie eventuell Projekte sein, die von Patienten durchgeführt werden. Leichte Formen von Demenz behindern im Alltag kaum. Auch entwickeln wir Therapien, mit denen sich der Hirnverfall verlangsamen lässt. Patienten bildeten Gruppen, die sogar in sozialen Netzwerken, z.B. bei Facebook aktiv sind. Dort können sie weiter teilnehmen, auch wenn sie nicht mehr im Haus weilen. Sie forschen und schreiben gemeinsam über Themen, die sie ihrer Ansicht nach direkter betreffen. Es entsteht meines Wissens nach ein Traktat vom Liebhaben, in dem ethische Fragen behandelt werden, ebenfalls ein Traktat vom Schönmachen, der ästhetischen Ansprüchen gewidmet ist. Die Zellen zu fordern, ist ein wichtiger Schritt, dem grauenden Alltag entgegenzuwirken.
XXVII
Veräppeln Sie uns? Vom Liebhaben, vom Schönmachen. Wer interessiert sich für sowas? Die Frage, wann die Demenz im Alltag beginnt, ist für mich viel wichtiger …
Schönmachen interessiert mich durchaus. Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt …
… Da haben Sie viel zu tun …
… Jetzt werden sie aber nicht unverschämt. Vielleicht sollten sie an dieser Online-Gruppe zum Liebhaben teilnehmen. Lernen soll ja lebenslang von Vorteil sein. Na? Ich schreibe übrigens auch, dabei ist ein Schönmachen die Hauptaufgabe. Gucken sie ruhig. Ich bin eine Schriftstellerin!
… Was immer sie auch sind, ich wünsche ihnen von ganzem Herzen viel Erfolg damit. - Aber ich wollte etwas anderes sagen … etwas …
Berücksichtigen Sie bitte, dass nur Fähigkeiten verloren gehen können, die zuvor erworben wurden. Noch ist der Kreis von Personen mit schweren Demenzen relativ klein, wird sich durch die demografische Entwicklung in naher Zukunft aber verdoppeln. Wir haben einige Kostproben angeführt, um bei Ihnen allen einen ersten Eindruck von unserer Arbeit hinterlassen zu können. Beide Traktatthemen entstanden aus Fragen, die den Teilnehmern im Alltag aufkamen. Ein Liebhaben kann innerfamiliär und unter Freunden durchaus von Relevanz sein, und wer nach Schönheit strebt, gleichgültig in Bezug auf was, der wird um ein Schönmachen nicht herumkommen. Bei sogenannten Naturschönheiten entfällt ein Machen, jene sind nicht inbegriffen, als eventuelle Vorlage aber relevant. Ich muss gestehen, dass mich Schönheit gar nicht interessiert. Sie langweilt mich. Aber ich bin keineswegs das Maß der Welt. Wenn eine Therapie gelingen soll, muss ich die unterschiedlichen Menschen ernst nehmen, sie fragen, was ihnen wichtig ist, worauf sie Lust verspüren.
Leiten Sie vielleicht auch solche Therapiegruppen?
Nein nein! Ich gehöre, wie ich eingangs erwähnte, zur Abteilung Öffentlichkeit. Ich stelle Ihnen unser Haus nur vor.
XXVIII
Können Sie uns erläutern, weshalb es in unserem Klinikum zwar Gespräche über Schönheiten und Langeweilen, jedoch nicht über Kultur gibt? Was hat uns veranlasst, sie auszusperren? Wird nicht vielerort über Kultur geredet, bei der UNESCO, in Wirtschaftkreisen, in Universitätseminaren und auf Veranstaltungen von Provinznestern? Kultur ist zu einem Heilbringer geworden, nur bei uns nicht!
Es gibt sie gar nicht, die Kultur. Ist dies nicht typisch für Heil und Bringer? Jeder spricht über anderes. Es blieb nur übrig, sich dem gesellschaftlichen Gerede zu entziehen. Dem Haus geht außer dem Rauschen nichts verloren. Künste, Wissenschaften, Gärten, was auch immer. Kultur ist nur ein beliebiges Emblem. Was zum Draufpappen, zum Wegschmeißen.
Ist es so schlimm geworden? Gibt es bereits einen Kulturaufkeber, ähnlich wie bei Bio? Geht es letztlich ums Geschäft?
Fast. Drei Ausdrucksweisen seien hervorgehoben. Kultur umfasse alles vom Menschen gemachte, ob seit alters her durch Vernunft, oder neuerdings durch Weitergabe eingegrenzt. Eine andere Richtung ist aus städtischen, bürgerlichen Interessen entstanden. Bezog sich auf Künste und das bürgerliche Engagement. Daraus sind inzwischen Wirtschaftszweige geworden. Aktuell kämpft die Buchbranche ums Überleben, startete eine Reihe von aufwenigen Kampagnen, u.a. mit einem Aufkeber Vorsicht Buch! Speziell eine Weitergabe, ein Lernen, findet allerdings auch unter anderen Tieren statt. Biologen sahen sich ermuntert, in diesen Fällen ebenfalls von Kultur zu sprechen. Es ist ausichtslos. Ein Erkenntnisgewinn ist nicht zu entdecken.
Erwarten Sie nicht zu viel von der Gesellschaft? Erkenntnisgewinn? Wer fragt danach? Wir hätten uns auf eine Seite schlagen müssen. Dies wäre unserem Klinikum nicht bekommen. Und Natur? Assozieren viele Menschen mit einem solchen Wort nicht Sonne, Blümelein, Sumsumsum, oder Baum und Hagel?
Dies ist im Hinblick auf die Umgangssprache tatsächlich ein Problem. Natur ist durch die Wissenschaften ein abstraktes Wort geworden, u.a. durch die methodische Konzentration auf Mathematik. Doch Methoden wurden entwickelt, um etwas zu erfahren, nicht um Gegenstandsbereiche abzugrenzen. Galileos Prosa, Mathematik sei die Sprache der Natur, wirkte nachhaltiger, als es Fragen nach Angemessenheit je vermochten. Wenn ein Gedicht natürlich ist, weil es nicht metaphysisch sein kann, mathematische Berechnungen bei der Analyse jedoch wenig hergeben, warum es nicht mit Sprache versuchen? Sammelbegriffe wie Künste und Wissenschaften sind bereits schwer zu fassen. Aber sie lassen sich jeweils leichter integrieren, als über den Umweg Kultur, diesen verbeulten und kaputten Eimern, die derzeit wie Grale über unansehnliche Baustellen getragen werden.
Müssten die Kulturwissenschaften, wenn sie sich mit allem beschäftigen, was Menschen hervorgebracht haben, nicht auch Fächer wie Mathematik und Musik integrieren? Davon ist im Ruhrgebiet nichts zu sehen! Handelt es sich nicht um die alten Geist- und Sozialwissenschaften, die neu zusammengefasst worden sind?
In Bezug auf die Sortierung gibt es nichts zu verstehen. Der Anreiz kam meines Wissens aus der Politik, die Ausrichtung galt dem Arbeitsmarkt. Ein makaberer Schwindel.
XXIX
Ich habe ihnen schon misstraut, als wir noch gar nicht in der Klinik waren. Grinsen sie ruhig. Sie sind kein Touristenführer, sie, sie sind ein Terrorist!
Das war zwar eine Bombe, die unter uns eingeschlagen ist, aber … Ich glaube, ich brauche einen frischen Kaffee! … Sie üben doch nicht etwa Zensur aus, oder wie verhindern Sie, dass über Kultur gesprochen wird?
Für eine Diskussion mit unserer Patienten wären solche Worte viel zu allgemein. Wir haben Ihnen lediglich einige Gründe angeführt, weshalb unser Klinikum auf Worte Kultur verzichtet. Die Patienten sprechen über konkrete Dinge und Sachen, auch wenn einmal ein Wort Kultur fällt, über ein Buch, eine Musik oder ein Verhalten, ähnlich wie in Bezug auf Natur. Kultur ist bei uns einfach nicht relevant. - Wie wärs, machen wir eine Kaffeepause?
Aber ihr Berater bringt die ganze Menschheit in Misskredit, ihre historischen Werke, die faszinierende Größe und errungene Identität! Ich weigere mich, Objekt der Zoologie zu werden. Wir haben Pyramiden gebaut, New York erschaffen, Opern komponiert und Romane geschrieben. Wir sind Hoch-, ja sogar Hochkultur!
Ist von Zoologie gesprochen worden? Unser Klinikum käme ohne Verfahren gar nicht aus, die traditionell als naturwissenschaftliche gelten. Wir könnten Sie im Krankheitfall gar nicht behandeln, würden sie sich solchen Verfahren entziehen wollen. Ihnen bliebe lediglich eine Heiler-Esoterik offen. - Wir machen besser erst einmal Kaffeepause!
XXX
Bevor ich Sie in den Himmel entlasse, damit sie friedvoll sterben können, wäre ich für Ihre Hilfe dankbar. Die Frage lautet: Weshalb kam es zu der demografischen Entwicklung, die uns zusammengeführt hat? Den Untersuchungergebnissen vieler Institute nach, die Gründe für die Kinderarmut in Deutschland gesucht haben, tauchen immer wieder ähnliche Vokalbeln wie Kosten, Freiheitdrang, unsichere gesellschaftliche Bedingungen, übrigens bei gehobenem Bildungniveau von Frauen, minderem bei Männern auf, einheitlich sind die Ergebnisse jedoch keineswegs. Deutlicher wurde ein methodisches Problem: Sobald nicht übliche Fakten, sondern Meinungen abgefragt wurden, fachlich sprechen die Experten von Einstellungfragen, bestand die Möglichkeit, dass sich die Befragten emotional etwas vormachten. Zunächst möchte ich von Ihnen wissen, ob auch sie im Himmel kinderlos enden werden?
Auf … auf diese unverschämte Frage antworte ich nicht.
Die Frau hat gar nicht unrecht, uns zu fragen. Doch antworten möchte ich lieber auch nicht.
Ich verende nicht, niemals!
*
I
Könnte ich mich der Wirklichkeit wie einer Haltestelle annähern, auf die eine Straßenbahn zusteuert, in der ich gelangweilt sitze und vor mich hinschaue, als gäbe es außerhalb von mir nichts zu entdecken? Ich müsste fantastisch sein, also imaginär, und doch würde dies nicht gelingen. Es würden zwar Schienen existierten, doch nicht über den Abgrund zwischen Imaginärem und Wirklichem. Nicht einmal in den Abgrund könnte ich stürzen, weil es ihn als gesonderten Grenzbereich aus Raum und Zeit gar nicht gäbe. Es ist eine besondere Eigenschaft von Menschen, der eigenen Sprache auf den Leim zu gehen, dem Schleim. Wie ließe sich mit der produzierten Bildhaftigkeit umgehen? Ausspucken? Mit der Schuhsohle breittreten? Und auf Regen, gar auf Hagel hoffen? Oder auf eine städtische Kehrmaschine?
Es geht Richtung Siechenhaus. Eine der Haltestellen. Der kann ich mich mit der Straßenbahn annähern. Und ich kann Gedanken verschwenden. Z.B. daran, dass die Relation von Haltestelle zu Haltestelle eine andere ist, als die von einem Beobachter zu Beobachtetem. Und von Wort zu Sache. Aber ich bin ganz und gar in der Wirklichkeit, zu der auch Imaginäres zählt, doch als Imaginäres, Flüchtiges, bloß Eingebildetes. Dies sagt kaum etwas über die Beschaffenheit der Wirklichkeit aus: Zu dieser gehört, dass ich in Spucke und Schleim untergehen kann. Sollte es in Straßenbahnen Rettungswesten geben, die klappweise aus der Decke, vom Himmel fallen? Es ist selbstverständlich, mehr oder weniger, dass sich Wirklichkeit unterscheiden kann. Angemessen wäre es, über Wirklichkeiten zu sprechen, in Abhängigkeit von persönlich getroffenen oder sich ergebenden Mengen von Existenzannahmen.
Folge ich auf meiner Fahrt einem Antrieb, meinem Organismus? Und wenn ich ich sage, handelt es sich bloß um eine Oberfläche, die vorspiegelt als auch in eine Tiefe blicken lässt, die vor allem tierisch ist? Ok ok, die Sprache, ich liebe sie, diese Blasen, doch wer wäre schon bereit, sich auf sowas einzulassen? Ist es nicht üblich, in Spucke und Schleim zu schwimmen, ja sogar in einer Straßenbahn rettungslos zu ersaufen, weil sich während der Fahrt nicht die Türen öffnen lassen?
Übrigens ist von dem, worüber ich hier erzähle, nichts erfunden. Nicht dass ich nicht erfinden könnte. Doch offensichtlich will ich nicht. Wer eine fabulierte Geschichte wünscht, der hat Pech gehabt. Es geht ums Siechenhaus, diese Haltestelle, die kaum jemand kennt, zwischen Brückenplatz und Pauluskirche. Es ist klar, dass den Weg nicht jeder nehmen darf. Ohne abgestempelte Fahrkarte wäre es zwar möglich, mit der Straßenbahn zu fahren, doch zu empfehlen wäre dies nicht. Man hat den Beförderungregeln nach zu zahlen, falls man ohne gültiges Ticket erwischt wird, eine empfindbare Strafe zu erdulden. Oder fängt die Vorfreude erst mit der Strafe an? Wäre sie ein geeignetes Mittel, um das Siechenhaus genießen zu können?
II
Verrückt? Ich bin ihr Touristenführer, jemand, der ihnen besondere Orte zeigt. Vor allem das Siechenhaus. Übrig geblieben ist zwar nur eine schlanke Seitenstraße, die erinnern lassen könnte, falls man denn ahnte, woran. Und die Haltestelle der Straßenbahn. Immerhin! Sie können ungehemmt projezieren. Ist das nichts? Stellen sie sich einfach vor, was immer sie wollen. Ist das kein Angebot? Und sie werden in jedem Fall Recht haben und auch behalten, denn ihre angestrengte Fantasie könnte ohnehin nicht wahr werden noch kann sie ihnen jemand nehmen!
Alten Chroniken nach hatte es gleich nebenan einen Galgen gegeben. Aber davon würde ich mich nicht beeinflussen lassen. Könnte ein Siechenhaus nicht auch etwas Schönes sein? Etwas Erhebendes? Dies träfe zwar auch für den Galgen zu, aber daran müssen sie nun wirklich nicht denken. Beschränken wir uns auf das Siechenhaus, dies ist eventuell schwer genug, so wie sie es sehen, falls sie möchten.
Und lassen sie die Vergangenheit ruhen. Aussätzige hatte es vor jeder alten Stadt gegeben. Daran ist nichts Besonderes. Spannender als zu fragen, wie es 1720 vor dem Einsturz ausgesehen haben könnte, wäre, zu überlegen, wodurch es sich heute auszeichnen würde. Machen Sie sich frei!
Um ihnen ein Beipiel zu geben: Bis in die Sechziger Jahre des 2o. Jahrhunderts, über den Zweiten Weltkrieg hinweg, hatte es eine Gaststätte Siechenhaus gegeben, die bei den Bürgern der Stadt, ebenfalls alten Chroniken nach, durchaus beliebt war. Ausgehen, Essen, Kegeln und Tanzen konnten zu einem ordentlichen Siechenhaus passen. Erst als Beatmusik und lange Haare - ein lokal ansässiger Bürger hätte vermutlich die neuen Drogen hervorgehoben, die morgens auffindbaren Einwegspritzen in seinem Vorgarten -, die Generationen auseinanderriss, war das Idyll nicht mehr zu halten.
Krieg ist zwar nicht mein Thema, aber es kann doch erstaunen, dass ein solcher die Menschen weitaus stärker zusammengebracht und -gehalten hatte, als der spätere Aufschwung. Bis in die beginnenden Sechziger Jahre hinein wurde wie eine verschwiegene Familie gelebt, innerhalb der mögliche Nestbeschmutzungen härter zu ahnden waren, als Menschenrechtsverletzungen. In einer Familie gibt es keine Menschen, sondern Brüder, Schwestern, Elten, Großeltern, Cousins … Unter ihnen gelten andere Regeln: Zusammenhalt und Hierarchie. Dass man auch als Mensch gelten könnte, war von ihnen noch gar nicht entdeckt!
Mit Siechenhaus ergattern sie eine WildCard, die ihnen alles erfüllt, was immer sie befürchten oder sich wünschen. Wahrscheinlich nur in ihrer Fantasie, doch ist dies nichts?
III
Eine WildCard ist Ihnen zu viel des Guten? Auch dafür gibt es eine Lösung. Schauen sie sich an der Haltestelle in aller Ruhe um, auch wenn es nichts Außergewöhnliches zu bemerken gibt, und lassen sie mich machen. Sie werden sehen, was sie davon haben. Und doch ergibt sich ein schwerwiegendes Problem:
Ist es ihnen möglich, mir zu folgen, hinein ins Siechenhaus? Würden sie mir Glauben schenken? Auch unter Menschen ist es nicht unüblich, über etwas zu sprechen, das nicht gegenwärtig ist. Auf Treppenabsätzen, einer Parkbank, bei Kaffee, Bier oder Tee. Lässt sich auf diese Weise nicht viel leichter sprechen? Sie haben die WildCard ausgeschlagen! Ich kann aber meine nutzen. Falls ihnen dies nicht gefällt, bitte ich sie, jetzt zu gehen.
IV
Die Auswahl ist schier unermesslich. Stellen sie sich ein Gebäude mit unzähligen Eingängen vor, von denen jedoch keine beschildert sind, nicht einmal mit Nummern. Eine solche Farce wäre bürokratisch durchaus möglich, würde jedoch dem Seviceanliegen der Stadt, um das seit einigen Jahren gerungen wird, zu schroff entgegenstehen.
Vielleicht könnte eine Frage weiterhelfen? Ich nehme für mich zwar nicht in Anspruch, ein Erkenntnisinteresse zu verfolgen, als Touristenführer. Mit einem solchen Motiv hätte ich meinen Job verfehlt. Meine Aufgabe umfasst die marketinggerechte Vermittlung von mir weitgehend Unbekanntem. Ich darf gar nichts wissen, nicht so viel, dass mir eventuell die ereignispädagogische Erregung in den Backen oder zwischen den Zähnen stecken bleibt. Fragen, wer oder was sich die Sieche eingefangen haben mag, das lässt sich von mir aber.
Eine Sieche muss nichts Schlechtes sein. Unterliegt nicht alles der Interpretation? Den Bürgern hatte ihr Gasthaus über Jahrzehnte richtig Spaß gemacht. Je siecher, umso besser! Ein bürgerliches Selbstverständnis, bis es zum Generationenbruch kam.
Eine Offenheit gegenüber möglichen Interpretationen ist von mir methodisch zu gewährleisten. Das Neutralitätsgebot hat allerdings Grenzen. Nicht solche des Geschmacks, derartiges kann ich mir nicht leisten, sondern in Bezug auf mein Vorgehen. Gibt es etwas, das ich sprachlich bedingt ausschließe? Wie stünde es z.B. mit der Auffassung, erst die Sieche würde Ruhm, Ehre und was weiß ich einbringen? Als Touristenführer hätte ich dafür kaum Worte.
Ich habe aber zwischen Sieche und Seiche zu differenzieren. Eine Verwechslung könnte die Angemessenheit gefährden. Also ich betreibe hier wirklich keine Wissenschaft. Aber dass sich in der Kulturwirtschaft mit ihren künstlerischen und angewandten Branchen, von Kultur kann ja keine Rede mehr sein, weil sie längst alles von Menschen gemachte umfasst, dass sich in der Kulturwirtschaft eine breite Seiche entwickelt hat, Kultur- und Kultur wurden durchaus inkompatibel, auch gegenüber Bakterien und Walen, also dass die gattungspezifische Nachfrageorientierung in und um die Künste niemanden verzweifeln lässt, dies hat zu einer Seiche beigetragen, die man eventuell auf eine Sieche zurückführen könnte.
Verstehen sie? Ich habe ja den Verdacht, dass dies niemand mehr versteht! Warum auch. Geht es den Menschen nicht gut dabei? - Im Bundesland der Stadt, das Land hat einen nicht geringen Einfluß auf die untergeordneten Verwaltungsbezirke und Kommunen, hatte ein ministerialer Buchhalter ausmisten lassen. Diese Kombination von ökonomischer Bewertung und landwirtschaftlichem Engagement führte zu einem aufgeräumten Stall, in dem maschinell gemolken und anderes Vieh leicht zu einem Schlachthof verbracht werden kann. Jeder Großbauer hätte dasselbe getan.
Aber ich kann ihnen doch keinen landwirtschaftlichen Betrieb präsentieren? Per Milch- und Fleischgeld von der EU subventioniert? Das wäre doch absurd, oder nicht? Die Stadt vegetiert seit Jahrzehnten in einer ehemaligen Industriezone, in der zwar übers Gärtnern gesprochen wird, sogar über eine lokal zu etablierende Sonderwährung, irgend so einen schebbigen Taler, doch wegen der hiesigen Armut. Mehr als eine erbärmliche Schrebergartenanlage käme auch bei bestem Willen nicht heraus.
V
Duisburgs Armut ist jedoch nichts Außergewöhnliches. Geringe Einkommen und ein Mangel an bezahlter Beschäftigung, der Begriff Arbeit wurde von Unternehmen und Politik systematisch missbraucht, um hiesige Menschen wenigstens gängeln zu können, zieht sich durch die gesamte Zone, bis in den Osten, nach Dortmund. Um mächtiger zu wirken, hatte man das Gebiet in Metropole umbenannt und die zergliederte Siedlungsstruktur als auch die Kleinkämpfe der Kommunen, die sich bis in die Zeit alter Germanenstämme zurückverfolgen lassen, als besonderes Merkmal ausgewiesen. Fast, denn einen vergleichenden historischen Rückblick hatte man sich verkniffen.
Die sprachliche Willkürlichkeit ließe sich bestenfalls einem Trickster zuschieben. Loki ist als wohlgestaltet und böse beschrieben worden, der durch Schlauheit und Betrug alle anderen übertölpelte. Mit diesem Eingeständnis hätte man allerdings nicht prangen können. In einigen Wissenschaften ist Beliebigkeit, falls Definition darüber steht, jedoch inzwischen üblich, und wenn man der Auffassung folgen würde, für die alles Erkannte erfunden sei, kaum anderes möglich. Der radikale Konstruktivismus ist wie für Arme und das Ruhrgebiet geschaffen!
Die Armut reicht übrigens bis ins exterritoriale Berlin. Ohne Hauptstadtbonus sähe es dort vermutlich schlimmer aus als im Pott. Berlin ist auf Sand gebaut, das Ruhrgebiet auf Schiefer.
VI
Viele Jahrzehnte bevor der Konstuktivismus begann nicht nur in der Neurologie, sondern auch unter Laien für Aufsehen zu sorgen, hatte Otto Neurath aus wissenschaftstheoretischer Sicht von einem Umbauen eines Schiffes auf hoher See gesprochen. Sein Bild war sprachlich motiviert, nicht durch Messungen von Hirnprozessen, die bei Wahrnehmungen möglich sind. Sieht man von den spärlichen aber durchaus relevanten neurologischen Ergebnissen ab, erfasst die Theorie bzw. das Marketing der Konstruktivisten die eigenen sprachlichen Konstruktionsbedingungen nicht, die Revolution verbreitet kaum mehr als den ängstlichen Atem ihrer Betreiber, die erhaltenen Forschungsgelder nicht wert zu sein. Von jungen Leuten, sie hatte der Konstruktivismus offensichtlich in Erregung versetzt, war in Online-Gruppen zu lesen, dass Erkenntnis tatsächlich von Menschen gemacht wird! Dies war vermutlich die Erste in ihrem Leben.
Man weiß ja wenig. Zumal in Deutschland. Und wer wäre bereit, das Tabu zu brechen, das durch Fragen nach Wirtschaftlichkeit entstanden ist? Wissenschaft und Philosophie, die schufen keine Arbeitsplätze, hinterließen bloß eine Menge von konfusen Leuten, die ökonomisch kaum mehr zu gebrauchen waren, ja, die niemand mehr verstand. Das war doch rausgeworfenes Bildungs-, vor allem aber Steuergeld! Schlichte Lehrbücher, ihre Definitionen und Modelle, was zum Auswendiglernen und kreuzweisem Abfragen, was will man mehr? Alles andere wäre doch esoterisch, oder nicht?
Vielleicht ahnen sie, wie die Seiche entstehen konnte. Auch diese muss nichts Schlechtes sein. Ich erinnere mich noch, wie ich mit orangenen Flügeln allmählich Schwimmen lernte, in einer Arbeiterkathedrale, dem uralten Hallenbad, dessen Buntglasfenster mit Insignien und Szenen von und aus der Schwerindustrie facettenreich geschmückt waren. Es gab nur ein Becken, das zunächst relativ flach war, sich aber graduell vertiefte. Der Planschbereich, in dem sich die Engel tummeln durften, war durch geflochtene Seile abgegrenzt. Das ist die heutige Wissensgesellschaft.
Oder nehmen sie die Künste. Wenn man als Konsument schon nichts versteht, dann sollten die Werke wenigstens schön und erfreulich sein, oder nicht? Keine musikalischen Ereignisse und Strukturen, sondern Gefühl bzw. ne Menge Feeling, das ist relevant, oder nicht? Mit schrecklichen Werken werden bloß psychologische Experimente ausgerichtet, dabei ist doch bekannt, was sie mögen, oder nicht? Sie wollen sich ihr trübes Leben erhellen und sich dabei pampern lassen, oder nicht?
VII
Ich habe gut reden, nicht wahr? Als ihr Touristenführer, der aus beruflichen Gründen nicht viel wissen darf, breit ich ne Menge Siff aus. Dies ist eine der letzten Eckkneipen in Hochfeld. Nur Flaschenbier. Keine Leitung in den Keller. Und die Theke bleibt trocken, so lange niemand draufkotzt. Wie sie an den Postern und Plakaten des MSV sehen können, eine bekennende Fußballleidenschaft der jungen Betreiber. Öffnet erst am späten Nachmittag, ein- zweimal die Woche. Und lässt auch bekennende Fußballignoranten hinein, wie mich.
Das Siechenhaus liegt auf der anderen Seite der Hauptstraße. Vielleicht ahnen sie bereits, um was es sich handeln könnte. Bevor ich ihnen jedoch das Gebäude präsentiere, ist konkreter auf Sprache einzugehen. Seit einigen Jahrzehnten ist sie fast unerheblich geworden. Nicht weil sich junge Leute in ihr austoben, Linguisten Schwierigkeiten haben, den Schöpfungen nachzukommen, sich Lehrer verbittert über eine Rechtsschreibschwäche ihrer Schüler äußern.
Ich frage sie erst gar nicht, was ihrer Meinung nach Sprache ausmacht, die übliche Antwort wäre, dass Sprache im Grunde nichts sei, aber zu etwas dienen könne, besonders zur Kommunikation. Diese Ansicht ist nicht nur unter den meisten Leuten verbreitet, sondern wird auch durch Theorien verbreitet, deren Urheber keinerlei Interesse an Sprache bekundeten. Dies ist leicht zu erkennen, bereits durch den Themenwechsel, das Ausweichen, das Unverständnis.
Vielleicht war es elegant, den Konstruktivismus durch eine Sprachtheorie zu bereichern, in der es nicht um Sprache, sondern um Kommunikation ging. Dieses Vorgehen hatte einen kybernetischen Grund: Nicht Worte, sondern Zeichen wurden herangezogen. Zeichen gibt es durchaus, z.B. in der Mathematik, dort haben sie auch Bedeutungen, es wäre jedoch aussichtlos, Bezüge unterstellen oder bilden zu wollen. Was lag näher, als diese kommunikativ zu unterschlagen? Die Unangemessenheit führte jedoch dazu, über nichts sprechen zu können, nicht einmal über Sprache! Nur Geplauder und Gesabber. Verstehen sie? Es ist leicht geworden, in einer Straßenbahn vor lauter Schleim und Blasen rettungslos zu ersaufen. Später wurde angeboten: Alles sei Kommunikation! Ja, warum nicht eine Sintflut?
VIII
Warum fällt es schwer, über Sprache zu sprechen? Weil einem, aufgrund der Schulzeit, kaum mehr einfällt, als das Regelwerk und die Lexika von Linguisten, die aus der Sprache eine Jurisprudenz mit zahllosen Rechtsfällen werden ließen? Ist Sprache vielleicht zum Traktieren da?
Kultur, ich weiß, die hat mir gerade noch gefehlt! Kultur schafft eine mehr oder weniger idyllische Ordnung, besonders gegenüber der Natur, nicht wahr? Doch sind Beton und Glas metaphysisch, oder auf andere Weise der Schwerkraft entzogen? Und sind sie nicht entstanden, ein kausales Resultat? Was sind das für sonderbare Blasen, Kultur, Natur, die nichts verstehen lassen, nichts als die menschliche Unbeholfenheit in Zeiten der neolithischen Revolution? Der Jungsteinzeit! Hat denn niemand Lust, sich weiterzuentwickeln? Der Gestank eurer alten Felle ist doch kaum noch zu ertragen, auch falls ihr einräumen würdet, die von Insekten zerfressenen Umhänge seien eventuell Bestandteil der Natur.
IX
Ich darf Sie herzlich in unserem gerontologischen Klinikum begrüßen. Die Sonne scheint freundlich durch die großen Fenster und lässt uns einen hellen Blick in Ihre Zukunft werfen. Ältere Mitbürger sind in unserer Gesellschaft seit Längerem keine Ausnahmen mehr. Und dieser Prozess kann sich noch verstärken. 2060 wird es, einer Berechnung des Statistischen Bundesamts nach, in Deutschland eine geringere Bevölkerungdichte geben, ceteris paribus, als nach dem Zweiten Weltkrieg. Und fast alle werden Greise sein. Wir haben uns entschlossen, diese demografische Entwicklung aktiv zu begleiten, soweit die gesetzlichen Vorgaben dies zulassen werden.
Wenn Sie vorgesorgt haben, geben Sie uns die Möglichkeit, auch Sie zu einzubeziehen. Sogar eine Mitbestimmung haben wir angelegt. Ein Ältestenrat beteiligt sich an unserem Engagement. Leider fällt es diesem Personenkreis etwas schwer, sich an die Rolle zu gewöhnen. Ein typisches Krankheitbild wie Demenz schränkt die Entscheidung- und Handlungkompetenz ein. Aber die Patienten finden auf allen Etagen bereitwillige Helfer, die unterstützen. Wir sind übrigens vielsprachig. Wenn Ihnen die Viet-Muong-Gruppe geläufig ist, oder Palaung-Wa, dann können Sie nach Herzenlust mit unseren mandeläugigen Mitarbeiterinnen kommunizieren. Dies ist ja die Grundvoraussetzung, um sich wohlfühlen zu können, eine offene aber nette Kommunikation.
Um Ihnen zu demonstrieren, wie zukunftweisend unsere Einrichtung ist, möchte ich Ihnen die Konsequenz vor Augen halten, die sich aus einer fehlenden Vorsorge ergeben: Zustände wie im Mittelalter! Das darf nicht sein! Aber ich will sie nicht schrecken. Wir sind ja alle vernünftig. Alles kein Problem. Ist es kein Traum, sich von mandeläugigem Liebreiz im Alter verwöhnen zu lassen?
Als gerontologisches Klinikum sind wir spezialisiert auf Erkrankungen, die im Alter auftreten. Es ist bekannt, dass, je älter die Menschen werden, auch die Leiden im Durchschnitt zunehmen. Weshalb sich die Menschheit dies antut, kann ich Ihnen nicht sagen, wir haben uns aber entschlossen, darauf zu reagieren und Ihr den Abschied von der Welt so angenehm wie möglich zu gestalten, mit allem medizinischen und menschlichem Raffinement, das sich von uns, dem Klinikum und seinen Mitarbeitern, aufbieten lässt.
Ich gehöre zum Team Öffentlichkeit und werde Sie durch einige Abteilungen führen. Nicht alle sind für Sie frei zugänglich, um die dort eingeschobenen Patienten nicht unnötig in Unruhe zu versetzen. Wir nehmen auch Spenden an. Sogar kleine Mittel erleichtern uns die Anschaffung von Gerätschaften und Utensilien, z.B. von Klopapier und Flüssigseife der Toiletten. Und wie Sie vielleicht bemerkt haben: Sie finden in mir eine Ansprechpartnerin, die auch Ihren etwaigen kritischen Fragen nicht ausweichen wird.
X
Luxus können Sie bei uns nicht erwarten. Bitte folgen Sie mir die Treppe hinauf. Die beiden Fahrstühle müssen den Patienten und dem Personal freigehalten bleiben. Unter einem solchen Haus gibt es nur die Straße. Aber hier geht es hoch bis in den Himmel! Ob wir Zugang erhalten, ist aber noch ungewiss. Ich warte noch auf eine SMS. Als Himmel benannten wir die Hospizstation, oben unterm Dach. Erinnert sich vielleicht jemand von Ihnen an einen rosaroten Horizont im Winter, kurz vor Weihnachten, und an Worte: Dort backen die Engel Plätzchen? Ein solches Rosarot, leicht ins Orange tendierend, haben wir als Dekorfarbe gewählt. Kein Luxus, nur eine Nettigkeit, um das Sterben zu erleichtern. Je älter unsere Patienten werden, um so präsenter wird ihr Langzeitgedächtnis. Und wenn unsere Damen und Herren verwirrt fragen, wo ich bin ich, lässt sich antworten, im Himmel. Eine Labsal, solche Worte.
Unsere finanzielle Lage korrespondiert mit der Armut der Stadt. Dies ist leider so. Sie können auch für Farbe spenden, oder Pinsel. Abnutzungerscheinungen sind nicht zu vermeiden. Farben blättern wie ein Wald im Herbst. Aber wir tun das Mögliche, um eine solche Phase nicht lange andauern zu lassen. Ein Ausfall des Kurzzeitgedächtniss von Patienten hat in unserem Haus immer wieder zu erstaunlichen Geschehnissen geführt. Eine Dame wurde auf der Straße angetroffen, die in Hemdchen, mit Handtasche und in Badelatschen den Bus nach Ostenpreußen suchte. Vorsicht, die Schranke wurde eingerichtet, damit niemand die Treppe hinunterfällt. Unter einigen Patienten sind Selfies in Mode gekommen. Wenn sie auf ihre Handspiegel, oder auf hereingebrachte Mobiles starren, verlieren sie leicht die Orientierung. Neue Hüften, die sind Luxus.
Als die Sozial- und Krankenberechnungen eingeführt wurden, blieben vielen Menschen nach dem Arbeitleben noch etwa fünf bis zehn Jahre. Inzwischen hat sich die Zeit des Ruhestands im Durchschnitt verdoppelt, wenn nicht verdreifacht. Mit dem Altern der Gesellschaft wird das Modell untragbar. Es bleibt kaum anderes übrig, als die Versicherungleistungen sukzessive zu reduzieren und bei einer bestimmbaren Altergrenze einzustellen. Ihr Weg könnte vom Himmel auf die Straße führen, oder in ein Gebüsch. Ich bin davon überzeugt, dass wir zukünftig viele Menschen draußen sterben sehen.
Dies hier ist übrigens die Knochenstation, samt der Fachabteilung Orthopädie, die von einigen Patienten scherzhaft Rollbrettausgabe genannt wird. Über ein mangelndes Selbstbewusstsein der alten Menschen können wir in der Regel nicht klagen.
XI
Aber ich hab doch einen Anspruch! Mein ganzes Arbeitsleben hab ich eingezahlt. Wie sie zu Recht betonten, in Versicherungen! Da kann mir niemand mit einem Rollbrett kommen! Ich bestehe auf meinem Recht! Mir ist völlig egal, wo das Geld herkommt. Entweder Recht, oder ich geh auf die Barrikaden!
Wenn sie meinen. Aber ihr Geld ist dann schon futsch! Ich hab mir das mal erklären lassen. Was sie einzahlten, ging an die älteren Generationen. Was sie in Zukunft bekommen könnten, legen die Jungen ein, eventuell. Und was ausem Aufbau von Finanzen werden kann, hat doch die letzte Krise, diese Finanzkriese gezeigt. Nix.
Beruhigen Sie sich doch. Sie beide beschreiben Probleme, doch eine Lösung ist nicht in unserem Haus, vielleicht nicht einmal durch die Politik zu finden. Wir können nur darauf hinweisen, dass mittelalterliche Verhältnisse leichter und rascher eintreten können, als gemeinhin angenommen wird. Frappierend ist: Die Zukunft hält keine Generationen mehr vor.
2060 bin ich längst tot. Was soll das! Ich will nicht 2060 mein Recht, sondern jetzt, also bald, sobald man mich aufhören lässt. Und dann will ich mein Geld auskosten und lachen, über all diejenigen, die noch arbeiten müssen. Diese armen dreckigen Schweine!
Jetzt ist aber gut! Was soll denn die Dame von uns denken? Sie und der andere Herr haben Ihre Meinung kundgetan. Wo soll das hinführen? Ich meine, Sie hat doch geantwortet, da muss man doch nicht schließlich noch rumpöbeln.
XII
Leben und Tod auf der Straße gehört bereits zum Alltag, auch hier in Hochfeld. Eine alte Frau zog jahrelang mit zerfetzter Kleidung, einigen Tüten und machmal mit einem klapprigen Handwagen durch den Stadtteil. Sie starb unter den Arkaden, einer ehemaligen Einkaufsmeile, die von Schnellimbissen, einem Internetcafé mit Wechselstube und einem Spielsalon genutzt wird. Die Müllabfuhr fand sie an einem Morgen, wie aus einer Pressenotiz zu lesen war, den Nacken zurückgebogen, mit offenem Mund, den Hinterkopf im Rinnstein. Und rief einen Rettungswagen. Es war zu spät. In Duisburg kein Einzelfall. Doch dies wird erst der Anfang sein, wenn solche Vorkommnisse in größerer Anzahl geschehen. In Straßen, Hauseingängen, in Parks: in massenhafter Variation.
Danke für die Unterstützung. Ich benötige Sie später noch einmal. Sie müssen mir in Sachen Kultur helfen. Wir haben sie im Klinikum abgeschafft! Auch Natur ist nicht mehr Natur. Aber ganz verstanden habe ich diese Vorgänge nicht, denn Künste und Traktate werden von unseren Patienten gepflegt. - Sie müssen wissen, dass eine bereichernde Beschäftigung, ja eine Herausforderung für die alten Menschen lebenwichtig ist, um nicht vorzeitig zu verkümmern. Aber zurück zu den Knochen und Gelenken: Im Laufe der Jahrzehnte verschleißt nicht nur das menschliche Skelett, es können heftige Reumaschübe, Knochenverformungen, sogar ein Zerbröseln auftreten. Wunder sind leider nicht zu vollbringen, auch nicht von unseren Ärzten. Eine Heilung, die normalerweise mit einer Erkrankung assoziiert wird, ist nur in seltenen Fällen möglich. Alterbedingte Prozesse sind unumkehrbar. Wir sehen es deshalb als unsere Aufgabe an, unseren Patienten das Leiden zu erleichtern. Dabei helfen auch kuriose Geräte wie dieser Galgen, mit dem das Skelett in der Länge gestreckt werden kann.
XIII
Sie hatten uns vom Himmel im Haus erzählt. Ist die Klinik eine christliche Einrichtung, gehören Sie zu einer Kirche? Gibt es keine Gleichbehandlung?
Genau das wollte ich auch schon längst fragen!
Nein. Wir mussten uns entscheiden. Die Simulation eines muslimischen Paradiess hätte uns überfordert. Eine Gleichbehandlung, die über religiöse Differenzen hinausweist, wäre unserem Anliegen und der typischen Degeneration von Patienten zuwidergelaufen. Wir hätten lediglich Sterbebetten anbieten können. Es gibt muslimische Einrichtungen, wie dort verfahren wird, ist mir jedoch unbekannt.
Dann sind sie nicht kirchlich, und trotzdem behandeln sie nicht alle gleich? Ist das nicht skandalös? Die Klinik kann doch nicht einfach gegen Gesetze verstoßen, so wie es ihr passt! Nicht dass ich hier für den Islam spreche, doch wenn es ums Recht geht, dann werde ich fuchsteufelswild. Dann müssen halt alle in Reih und Glied … !
Unser Klinikum macht ein Angebot, jedoch nicht für jeden. Das wäre von uns nicht leistbar.
XIV
Ist das von Ihnen entwickelte Scenario aber realistisch? Ich kenne die von Ihnen angeführte Schätzung, sie stammt vom Ende des ersten Jahrzehnts. Inzwischen ist es jedoch zu einem Einwanderungsboom von Akademikern aus EU- und anderen Staaten gekommen. Die Wirtschaft ist erfreut und verlangt nach mehr. Ich gebe Ihnen Recht, dass die demografische Entwicklung unerfreulich ist, aber der Zuzug blieb in ihrer Erklärung unberücksichtigt.
Danke für diese interessante Frage. Was wirklich sein wird, ist jedoch auch mit den aktuellen Zahlen schwer zu beantworten. Meiner Kenntnis nach reisen doppelt so viele Männer wie Frauen ein, um in Deutschland, in München und Hamburg zu arbeiten. Duisburg hat nur Leerstand zu bieten. Und weil Alterungprozesse von Gesellschaften im gesamten europäischen Raum zu beobachten sind, könnten innereuropäische Migrationbewegungen nicht zu einem Tendenzwechsel beitragen. Der Zuzug lässt die deutschen Sozial- und Krankenkassen weniger darben. Doch erforderliche Rücklagen werden nicht gebildet, alternative Konzepte nicht angeboten. Der Blick ist auf die Gegenwart gerichtet, auf die jeweilige Klientel. Eine erkennbare demografische Perspektive fehlt.
Wozu wohl auch eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf gehören würde. Ist das nicht so, dass besonders Deutschland versagt? Nicht mal die Kitas reichen aus! Alle reden von Familie, aber was getan wird, bleibt herzlos. Ich bin richtig sauer!
XV
Vor dem Fenster wippen und schaukeln Zweige. Ein sachter Wind könnte durch die Siechenhausstraße ziehen. Die kleinen schmalen Blätter blinken gelegentlich im Sonnenlicht. Aber Demografie ist nicht mein Thema. Leute hin, Leute her. Klar. Falls es mit der Menschheit zu Ende geht, dann geht es mit der Menschheit zu Ende. Was für ein lahmer Scheiß sich durch mein Hirn windet. Ich gehöre zu den Menschen, den Singles, die sich einer artgerechten Reproduktion verweigern. Gebt dem Ende eine Chance!
Es kommt nicht auf den Einzelnen an. Auch wenn ich Single bin. Ein Einzelner bin ich nicht. Der Einzelne schon gar nicht. Durchschnitte sind relevant. So weh dies auch tun mag. Einzelne sind völlig unerheblich! Es gibt sie nicht einmal! Allenfalls in einer degenerierten Fantasie. Um einen Einzelnen zu erhalten, müsste ich ihn aus einer Gesellschaft schneiden, als wäre diese ein Kuchen, ein Stück auf den Teller heben, ohne ein Stück zu erhalten. Das erhaltene Stück wäre nämlich ein Einzelnes, kein Stück von etwas. Es wäre eine Monade. Ohne Teller. Die durch ihre leere Einzelheit irrt. Und doch war und ist dies der Traum vieler Individualisten: Ich, sonst nichts.
Aber Menschen sind auch keine Kuchenstücke von etwas, z.B. einem Ganzen. Ein Single wäre ein Ganzes, jedoch nicht die Gesellschaft. Dort wuselt es nur. Wie in einem System von Systemen? Verifizieren ließe sich dies nicht. Ein Riesenaufwand, schematisch über Bände verteilt, nach Begriffen geordnet, letztlich beliebige Diktionen. Aber hört sich systematisch an! Sind wir denn alle nur blöd?
Auch als bekennender Individualist muss man keineswegs intelligent sein. Oder über Wissen verfügen, gar kreativ gestalten können. Ich blasen reicht. Und dabei die Lala aufdrehen, bis zum Hörsturz. Dies geschieht in Massen, hier im Stadtteil. Der Volumenregler als Garant der Iche. Und eventuell der Selbste, falls man grammatisch so weit vorgedrungen ist. Nein. Es lohnt einfach nicht, es lohnt nicht.
XVI
… Hallo! Möchten Sie mit uns ein Stockwerk höher steigen? Wir wollen zu den Innereien. Sie starren dort auf die Akazie. Es handelt sich übrigens um ein Mimosengewächs, wie man mir bereitwillig erläuterte.
Ich weiß gar nicht wo ich war. Ich glaub, ich hab den Siechenwind gespürt.
Vielleicht waren Sie im Himmel?
Ich steige ihnen wirklich sehr gerne nach!
Ich brauche sie noch, wie Sie wissen. - So, auf gehts! Bitte folgen Sie mir alle. Die Station, die uns erwartet, ist die der Inneren Medizin. Und Vorsicht, auch dort gibt es oben eine Schranke.
XVII
Nicht nur Knochen und Gelenke, auch Herz, Kreislauf und Blutgefäße altern. Herzinfakte und Schlaganfälle können resultieren, dies sogar jeweils mehrfach. Und bei nicht wenigen unserer Patienten sind auch die Augen betroffen. Unsere Station für Ophthalmologie wurde ebenfalls hier untergebracht. Der graue Star ist eine typische Altererkrankung, die mit einer Linsentrübung einhergeht. Dies hat nichts mit Halloween zu tun. Der geäußerten Bitte eines jungen Besuchers, der Oma doch bitte die Kontaktlinsen zu entnehmen, konnten wir leider nicht entsprechen. Schwierigkeiten mit den Augen können jedoch auch durch andere Erkrankungen entstehen, z.B. durch Diabetes.
Die altersbedingte innere Medizin hat derart viele Fachgebiete, dass wir sie gar nicht alle berücksichtigen können. Das Haus ist zu klein. Unter Umständen müssen Patienten in andere Häuser verlegt werden, damit eine Spezialbehandlung erfolgen kann. Bei uns hat sich der Begriff Tournee herausgebildet, um den besonderen Aufwand etwas zu entlasten. Nicht alle Patienten kehren zurück.
Der Tod ist in einem Haus wie diesem allgegenwärtig, ebenso die Gefahr, ihn nur als physiologisches und technisch messbares Ereignis wahrzunehmen, um Distanz zu ermöglichen, nicht erfasst und als Happen verschlungen zu werden. Die Besonderheit unseres Hauses ist, Sterben als Lebenereignis zuzulassen und den Tod als -ende zu akzeptieren. Die ist keineswegs leicht. Nicht wenigen Menschen, vor allem Besuchern, kräuseln sich die Nackenhaare und laufen Schauer den Rücken hinab, sobald auch nur ein Wort Tod fällt. Hinzukommt die emotionale Betroffenheit, jemanden aus dem engeren Umfeld zu verlieren. Eine solche Erregung kann sogar zu einer Schnappatmung und Herzattacke führen, Ereignisse, die eventuell erst im eigenen Todkampf enden. Trauergespräche gehören deshalb von Beginn an zu unserem Angebot.
Es gab sogar die Idee, von einigen unserer Patienten, die eine Arbeitgruppe gebildet hatten, den Oberbürgermeister zu einem Trauergespräch einzuladen. Leider gibt es bislang aus dem Rathaus keine Reaktion. Anlass war nicht die Love-Parade-Katastrophe oder eine der vielen Haushaltsperren, sondern sein Einspruch gegen eine künstlerische Installation, die bereits monatelang mit dem Künstler, dem hiesigen Museum und dem Bauamt entwickelt worden war. Ein Akt, wie beim Ausknipsen eines Lungeautomaten. Es fiel sogar das Wort Euthanasie. Ich glaube, ich sagte bereits, dass unsere Patienten nicht an mangelndem Selbstbewusstsein leiden?
XVIII
Habe ich Sie erschlagen? Sie dürfen gerne Fragen stellen oder Anmerkungen machen.
Ja nee. Was Sie vorstellen, klingt irgendwie parallel. Die Realität sieht doch ganz anders aus, also die normale. Ich verstehe das nicht. Man muss doch die Menschen mit der Wahrheit konfrontieren. Sie können doch nicht einfach die Insassen, also die Patienten auf Tournee schicken. Das ist doch völlig absurd. Hat denn hier niemand Würde?
Mit welcher Wahrheit?
Wahrheit? Na, mit dem Tod!
Gibt es den? Was ist für Sie Tod?
Jetzt wundere ich mich aber. Sie haben doch selber über den Tod gesprochen. Er ist doch eine Tatsache. Ich frage Sie, was kommt denn Ihrer Ansicht nach nach dem Tod?
Die Beerdigung.
Sonst nichts? Ich meine den Tod, diese Auslöschung, dieses Nichtsein, sowas muss man doch ernst nehmen. Diesen Blick in die furchtbare Leere. Den gilt es doch auszuhalten, damit muss man sich doch auseinandersetzen. Das ist doch ein Schrecken!
Glauben Sie?
Woran?
An den Schrecken.
Hhaaaa, ich blicke nicht mehr durch.
Das Wort Tournee wurde von einer ehemaligen Tänzerin eingeführt, mit leiser feiner Stimme, als sie zu einer Spezialbehandlung nach Düsseldorf aufbrechen musste. Einige Wochen später nutze es ein Rockopa. Ihn, glaube ich, hat man bis in den Himmel gehört. Seitdem zählt es zum Wortschatz vieler unserer Patienten und wird in der Regel mit einem Lächeln geäußert. Die meisten Menschen sind in einer Konzert- und Fanwelt aufgewachsen. Nun, im Alter, gehen Sie mit rosa Wangen selber auf Tournee. Was ließe sich dagegen sagen?
Und nach der Beerdingung, was kommt dann? Ich finde, dass mein Vorredner nicht ganz unrecht hat. Der Tod ist doch wie ein großes schwarzes Loch. Wenn ich da reinfalle, weiß ich nicht, was dann passiert. Das macht doch den tiefen Ernst aus.
Die Verwesung.
Was? Verwesung? Was soll das bedeuten? Leugnen sie den Tod?
Entschuldigung, wenn ich eingreife, aber sie beide verwechseln etwas. Das einzige Sein, auf das sich Worte Tod beziehen könnten, wäre ein Lebensende. Lassen sie sich von der Sprache keinen Bären aufbinden, kein Ungeheuer mit bleckenden Zähnen und rollenden, rotunterlaufenen Augen. Zu glauben, bleibt ihnen weiterhin frei, aber bitte nicht an eine solche Bestie.
XIX
Aber nehmen wir mal hypothetisch an, Sie hätten Recht und der Tod wäre nur ein Lebensende, dann könnte ich jenem Knipser, Ihrem Oberbürgermeister, einwandfrei zustimmen. Es wird halt ausgeknipst. Fertig. Ein Tod wäre ja nicht schlimm.
Ich darf, ja? - Warum lassen Sie nur emotionale Extreme zu? Im Alter beschäftigt das Ableben und seine Unvermeidbarkeit ohnehin. Der Verfallprozess ist jedoch mit einem Ausknipsen nicht vergleichbar. Vorzeitig ein Ende zu setzen, willkürlich, lässt den Agierenden zu einem Schreckgespenst werden, vor dem sich eine Stadt hüten könnte. Ich würde versuchen, die Umstände einzubeziehen.
Ein echt grausames Thema. Ein frustrierendes. Aber vielleicht haben sie Recht. Mit einem Wust an Gefühlen kommt man einfach nicht weit. Ach, ist das der Zeitpunkt, an dem die Trauer beginnt?
Beginnen kann.
XX
Hat noch jemand Fragen? Ich weiß, wie aufreibend die Sache ist. Und leicht machen wir es Ihnen wohl auch nicht. Doch bevor es in den nächsten Stock geht, wäre ich froh, wenn die gröbsten Erschwernisse abgebaut sind.
Geht es jetzt in den Himmel?
Nein. Noch nicht. Eine Etage höher erwartet Sie die Neuropsychiatrie. Oben ist keine Schranke, sondern eine Panzerglastür. Wie stets? Hat jemand von Ihnen Angst? Nein? Gut. Ich darf mit dem Schlüssel vorausgehen? Dort ist auch unsere Forschungabteilung untergebracht. Uns beschäftigt die Frage nach dem Weg in die demente Gesellschaft! Kommen Sie? Außerdem wird uns erläutert werden, wie es in unserem Haus um Natur und Kultur bestellt ist.
XXI
Oh nein!
Ich habs genau gesehen. Der Fuß …
Hallo? Wir benötigen dringend eine Notfallversorgung. Auf Höhe der Inneren, im Treppenhaus! Zwei Besucher sind auf dem Anstieg zur Neuropsychiatrie gestürzt.
… Der Fuß des Mannes rutschte ab. Ich stand direkt daneben. Und sein Oberkörper kippte nach vorn. Seine Arme wedelten, und ich hatte Glück, nicht getroffen …
Das darf doch nicht wahr sein. Vermutlich die Anstrengung. Eventuell müssen wir umdisponieren. Ich hoffe, lassen Sie mich bitte durch, dass keine bleibenden Schäden entstanden sind. Können Sie die Beine bewegen? Und die Füße? Und Sie?
… Ich wurde zum Glück nicht getroffen, doch er fiel zurück und schlug der Dame ins Gesicht, also wohl nicht absichtlich …
Hilfe habe ich bestellt. Sie wird umgehend eintreffen. Bleiben Sie bitte auf dem Boden. Wenn es möglich ist, legen Sie sich hin. Keine ruckartigen Bewegungen! Entspannen Sie die Muskeln. Gleich wird man Ihre Knochen und Gelenke prüfen können. … Ja, hier auf der Treppe. Sie nehmen die beiden mit auf die Station? Und Sie halten mich auf dem Laufenden? … Dann wird es das Beste sein, wenn wir ins Erdgeschoss fahren. In der Kantine gibts Kaffee. Hören Sie? Wir fahren, sobald Hilfe eingetroffen ist, hinab in die Kantine und trinken erst mal Kaffee, was halten Sie davon? … Bei Notfällen dürfen wir den Aufzug benutzen.
XXII
Irgendwann musste so etwas geschehen. Na ja, würde. Die Leitung sollte sich schnell etwas einfallen lassen, um weitere Unfälle zu vermeiden. Solche Öffentlichkeittouren sind anstrengend. Treppauf, treppab. Und das Stehen. Huuuaaar. Was machen wir jetzt mit den Leuten?
Die trinken erst mal Kaffee. Ihre Idee war gut. Schauen sie, wie aufgeregt die Touristen hantieren. Etwas Beruhigung täte auch ihnen gut. Sie bekommen bald eine Nachricht aus der Knochenstation. Und die beiden Besucher werden zu uns stoßen. Vielleicht sollten wir die Führung in der Kantine zu Ende bringen? Erzählen lässt sich auch hier. Haben sie nicht ein paar hübsche Bilder, die man an die Wand klatschen könnte?
Wunderbar! Eine hübsche Klatsche. Wir haben irgendwo Dias und einen Projektor. Das wird gehen. Ich ruf mal bei der Technik an.
Die bedauerswerte Dame.
Hups. - Ja, hier …
XXIII
Ich verabschiedete mich mit einem Päckchen Tabak in der Hand, um in den Innenhof des Klinikums zu wechseln. Eine möglich gewordene Auszeit, abseits der Geräusche, hatte den Drang nach Nikotin verstärkt. Zumeist war es in dem Karree ruhig geblieben, auch falls sich mehrere Personen eingefunden hatten. Als ich hinaustrat, schritt jemand gegenüber des Kantinenzugangs die Fensterwand entlang.
Bald, dachte ich, wird der Bus eintreffen. Ich zündete meinen Dreh an. Lange könnte der Fahrer nicht auf die Touristen warten. Der Rest des Tages muss kompakt gestaltet werden. Ich hatte bei meinem anfänglichen Vortrag nicht den Eindruck gewonnen, auf Interesse an Worten Natur Kultur gestoßen zu sein. Blabla.
In der Kantine baute jemand einen Bock für den Projektor auf. Das Glas spiegelte, nur Umrisse waren zu erkennen. Plötzlich wurde ein Vorhang zugezogen. Ich drückte den krummen Rest im Außenascher aus.
XXIV
… Lieben Dank für die nette Unterstützung, aber können Sie den Vorhang aufziehen? Dies war ein Test. Wir hatten zu prüfen, ob die Verdunkelung für die Projektion ausreicht. Konnten Sie alle etwas sehen? Ja? Wunderbar! Ich warte noch auf eine telefonische Rückmeldung aus der Knochenstation. - Aahh, da sind ja beide. Und Sie können sogar gehen!
Wie ungeschickt, und rabiat. Erst fällt er, dann schlägt er um sich. Hab ich ein blaues Auge? Aber er hat sich ja selber wehgetan. Sie setzen sich nicht neben mich! Haben sie gehört?
Ich kann mich bloß nochmals entschuldigen. Bin abgerutscht. Ich versteh das selber nicht. Es tut mir sehr leid.
Der Schrecken war größer als die Verletzungen. Wir humpeln zwar beide etwas, doch gebrochen ist nichts. Haben sie noch Sitzplätze für uns, am besten an verschiedenen Seiten?
XXV
Uns fehlt leider ein Medienzentrum, ebenso ein bequemer Kinosaal. Wenn unser Alten- und Pflegeheim genehmigt und errichtet ist, vielleicht können wir Ihnen den gesamten Komplex in einem Film präsentieren. Und Sie hätten es gemütlich wie zu Hause, wären aber in Gesellschaft. Bis dahin müssen Sie jedoch, nach dem heutigen Unfall, mit unseren Dias Vorlieb nehmen. Wir sind bislang nur ein Klinikum.
Eine Neuropsychiatrie wurde eingerichtet, um klären zu können, ob kognitive Beschwerden physische oder psychische Bedingungen haben. Dies lässt sich von außen nicht abschätzen, ist jedoch die Voraussetzung für mögliche Behandlungen. Typisch fürs Alter sind physisch bedingte Ablagerungen oder Durchblutungstörungen im Gehirn und psychisch bedingte Depressionen.
Als überregional renomiertes Demenzentrum untersuchen wir hier in Duisburg auch besonders schwere Fälle. Die Station kann deshalb nur abgeriegelt betrieben werden. Die Belastung wäre für andere Stationen durch Gedächtnisverluste von Patienten oder krasse Stimmungwechsel zu groß. Patienten, die in OP-Säle eindringen, um ihre Brille zu suchen, oder einen Freund aus Jugendzeiten, der sich dort versteckt habe, die im Flur einen Strip-Tease veranstalten, wie an einem FKK-Strand, oder Leute mit den Worten anfahren, sie hab ich schon mal gesehen, sie Schuft, sind im Betrieb wenig hilfreich. Ich warne jedoch vor Kurzschlüssen. Bekanntheitgrad und Renommee geben keine Auskünfte über Qualität! Eine solche wäre durch Autorität oder Marketingfloskeln gar nicht vermittelbar. Ich betone diesen eventuell unscheinbaren Unterschied, weil er in eine Demenz hineinreicht, die alltäglich ist. - Sie machen uns auf einige weitere Beispiele aufmerksam?
Gerne. Demenz beginnt mit kognitiven Beeinträchtigungen, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken können. Dazu gehören Verwechslungen von Imaginärem und Wirklichem. Imaginäres wie einen Traum wirklich werden zu lassen, ist aus logischer Sicht nicht möglich, auch gar nicht erforderlich, weil Imaginäres, als Imaginäres, längst wirklich wäre. Oder eine Verwechslung von Sprache und Gegenstand: Dass sich eine Idee bzw. ein Begriff verkörpert, klingt vielleicht für manche Assoziation angenehm fließend, wäre jedoch gleichfalls, ohne weitere Zusatzannahmen, verfehlt. Bestenfalls ließe sich fragen, was geraucht wurde. Wenn einfache Differenzierungen entfallen, hat eventuell eine Demenz Einzug gehalten. Zu berücksichtigen wäre, ob relevante Fähigkeiten zuvor erworben wurden.
Danke. Die Alltagerfahrungen dienen als Ausgang für unsere Demenzstudien. Lediglich nach anerkannten Krankheitbildern vorzugehen, wäre uns in der Forschung zu wenig. Uns interessieren graduelle Veränderungen, die vom Alltag bis in ein Stadium reichen, in dem eine Teilnahme an diesem ohne aufwendige Pflege nicht mehr leistbar ist. Ebenso eine gesellschaftliche Zukunft, die durch Demenz gepägt sein wird, ob in Wirtschaft oder Politik.
XXVI
Spannender als unsere Forschungen könnten für Sie eventuell Projekte sein, die von Patienten durchgeführt werden. Leichte Formen von Demenz behindern im Alltag kaum. Auch entwickeln wir Therapien, mit denen sich der Hirnverfall verlangsamen lässt. Patienten bildeten Gruppen, die sogar in sozialen Netzwerken, z.B. bei Facebook aktiv sind. Dort können sie weiter teilnehmen, auch wenn sie nicht mehr im Haus weilen. Sie forschen und schreiben gemeinsam über Themen, die sie ihrer Ansicht nach direkter betreffen. Es entsteht meines Wissens nach ein Traktat vom Liebhaben, in dem ethische Fragen behandelt werden, ebenfalls ein Traktat vom Schönmachen, der ästhetischen Ansprüchen gewidmet ist. Die Zellen zu fordern, ist ein wichtiger Schritt, dem grauenden Alltag entgegenzuwirken.
XXVII
Veräppeln Sie uns? Vom Liebhaben, vom Schönmachen. Wer interessiert sich für sowas? Die Frage, wann die Demenz im Alltag beginnt, ist für mich viel wichtiger …
Schönmachen interessiert mich durchaus. Ich bin den ganzen Tag damit beschäftigt …
… Da haben Sie viel zu tun …
… Jetzt werden sie aber nicht unverschämt. Vielleicht sollten sie an dieser Online-Gruppe zum Liebhaben teilnehmen. Lernen soll ja lebenslang von Vorteil sein. Na? Ich schreibe übrigens auch, dabei ist ein Schönmachen die Hauptaufgabe. Gucken sie ruhig. Ich bin eine Schriftstellerin!
… Was immer sie auch sind, ich wünsche ihnen von ganzem Herzen viel Erfolg damit. - Aber ich wollte etwas anderes sagen … etwas …
Berücksichtigen Sie bitte, dass nur Fähigkeiten verloren gehen können, die zuvor erworben wurden. Noch ist der Kreis von Personen mit schweren Demenzen relativ klein, wird sich durch die demografische Entwicklung in naher Zukunft aber verdoppeln. Wir haben einige Kostproben angeführt, um bei Ihnen allen einen ersten Eindruck von unserer Arbeit hinterlassen zu können. Beide Traktatthemen entstanden aus Fragen, die den Teilnehmern im Alltag aufkamen. Ein Liebhaben kann innerfamiliär und unter Freunden durchaus von Relevanz sein, und wer nach Schönheit strebt, gleichgültig in Bezug auf was, der wird um ein Schönmachen nicht herumkommen. Bei sogenannten Naturschönheiten entfällt ein Machen, jene sind nicht inbegriffen, als eventuelle Vorlage aber relevant. Ich muss gestehen, dass mich Schönheit gar nicht interessiert. Sie langweilt mich. Aber ich bin keineswegs das Maß der Welt. Wenn eine Therapie gelingen soll, muss ich die unterschiedlichen Menschen ernst nehmen, sie fragen, was ihnen wichtig ist, worauf sie Lust verspüren.
Leiten Sie vielleicht auch solche Therapiegruppen?
Nein nein! Ich gehöre, wie ich eingangs erwähnte, zur Abteilung Öffentlichkeit. Ich stelle Ihnen unser Haus nur vor.
XXVIII
Können Sie uns erläutern, weshalb es in unserem Klinikum zwar Gespräche über Schönheiten und Langeweilen, jedoch nicht über Kultur gibt? Was hat uns veranlasst, sie auszusperren? Wird nicht vielerort über Kultur geredet, bei der UNESCO, in Wirtschaftkreisen, in Universitätseminaren und auf Veranstaltungen von Provinznestern? Kultur ist zu einem Heilbringer geworden, nur bei uns nicht!
Es gibt sie gar nicht, die Kultur. Ist dies nicht typisch für Heil und Bringer? Jeder spricht über anderes. Es blieb nur übrig, sich dem gesellschaftlichen Gerede zu entziehen. Dem Haus geht außer dem Rauschen nichts verloren. Künste, Wissenschaften, Gärten, was auch immer. Kultur ist nur ein beliebiges Emblem. Was zum Draufpappen, zum Wegschmeißen.
Ist es so schlimm geworden? Gibt es bereits einen Kulturaufkeber, ähnlich wie bei Bio? Geht es letztlich ums Geschäft?
Fast. Drei Ausdrucksweisen seien hervorgehoben. Kultur umfasse alles vom Menschen gemachte, ob seit alters her durch Vernunft, oder neuerdings durch Weitergabe eingegrenzt. Eine andere Richtung ist aus städtischen, bürgerlichen Interessen entstanden. Bezog sich auf Künste und das bürgerliche Engagement. Daraus sind inzwischen Wirtschaftszweige geworden. Aktuell kämpft die Buchbranche ums Überleben, startete eine Reihe von aufwenigen Kampagnen, u.a. mit einem Aufkeber Vorsicht Buch! Speziell eine Weitergabe, ein Lernen, findet allerdings auch unter anderen Tieren statt. Biologen sahen sich ermuntert, in diesen Fällen ebenfalls von Kultur zu sprechen. Es ist ausichtslos. Ein Erkenntnisgewinn ist nicht zu entdecken.
Erwarten Sie nicht zu viel von der Gesellschaft? Erkenntnisgewinn? Wer fragt danach? Wir hätten uns auf eine Seite schlagen müssen. Dies wäre unserem Klinikum nicht bekommen. Und Natur? Assozieren viele Menschen mit einem solchen Wort nicht Sonne, Blümelein, Sumsumsum, oder Baum und Hagel?
Dies ist im Hinblick auf die Umgangssprache tatsächlich ein Problem. Natur ist durch die Wissenschaften ein abstraktes Wort geworden, u.a. durch die methodische Konzentration auf Mathematik. Doch Methoden wurden entwickelt, um etwas zu erfahren, nicht um Gegenstandsbereiche abzugrenzen. Galileos Prosa, Mathematik sei die Sprache der Natur, wirkte nachhaltiger, als es Fragen nach Angemessenheit je vermochten. Wenn ein Gedicht natürlich ist, weil es nicht metaphysisch sein kann, mathematische Berechnungen bei der Analyse jedoch wenig hergeben, warum es nicht mit Sprache versuchen? Sammelbegriffe wie Künste und Wissenschaften sind bereits schwer zu fassen. Aber sie lassen sich jeweils leichter integrieren, als über den Umweg Kultur, diesen verbeulten und kaputten Eimern, die derzeit wie Grale über unansehnliche Baustellen getragen werden.
Müssten die Kulturwissenschaften, wenn sie sich mit allem beschäftigen, was Menschen hervorgebracht haben, nicht auch Fächer wie Mathematik und Musik integrieren? Davon ist im Ruhrgebiet nichts zu sehen! Handelt es sich nicht um die alten Geist- und Sozialwissenschaften, die neu zusammengefasst worden sind?
In Bezug auf die Sortierung gibt es nichts zu verstehen. Der Anreiz kam meines Wissens aus der Politik, die Ausrichtung galt dem Arbeitsmarkt. Ein makaberer Schwindel.
XXIX
Ich habe ihnen schon misstraut, als wir noch gar nicht in der Klinik waren. Grinsen sie ruhig. Sie sind kein Touristenführer, sie, sie sind ein Terrorist!
Das war zwar eine Bombe, die unter uns eingeschlagen ist, aber … Ich glaube, ich brauche einen frischen Kaffee! … Sie üben doch nicht etwa Zensur aus, oder wie verhindern Sie, dass über Kultur gesprochen wird?
Für eine Diskussion mit unserer Patienten wären solche Worte viel zu allgemein. Wir haben Ihnen lediglich einige Gründe angeführt, weshalb unser Klinikum auf Worte Kultur verzichtet. Die Patienten sprechen über konkrete Dinge und Sachen, auch wenn einmal ein Wort Kultur fällt, über ein Buch, eine Musik oder ein Verhalten, ähnlich wie in Bezug auf Natur. Kultur ist bei uns einfach nicht relevant. - Wie wärs, machen wir eine Kaffeepause?
Aber ihr Berater bringt die ganze Menschheit in Misskredit, ihre historischen Werke, die faszinierende Größe und errungene Identität! Ich weigere mich, Objekt der Zoologie zu werden. Wir haben Pyramiden gebaut, New York erschaffen, Opern komponiert und Romane geschrieben. Wir sind Hoch-, ja sogar Hochkultur!
Ist von Zoologie gesprochen worden? Unser Klinikum käme ohne Verfahren gar nicht aus, die traditionell als naturwissenschaftliche gelten. Wir könnten Sie im Krankheitfall gar nicht behandeln, würden sie sich solchen Verfahren entziehen wollen. Ihnen bliebe lediglich eine Heiler-Esoterik offen. - Wir machen besser erst einmal Kaffeepause!
XXX
Bevor ich Sie in den Himmel entlasse, damit sie friedvoll sterben können, wäre ich für Ihre Hilfe dankbar. Die Frage lautet: Weshalb kam es zu der demografischen Entwicklung, die uns zusammengeführt hat? Den Untersuchungergebnissen vieler Institute nach, die Gründe für die Kinderarmut in Deutschland gesucht haben, tauchen immer wieder ähnliche Vokalbeln wie Kosten, Freiheitdrang, unsichere gesellschaftliche Bedingungen, übrigens bei gehobenem Bildungniveau von Frauen, minderem bei Männern auf, einheitlich sind die Ergebnisse jedoch keineswegs. Deutlicher wurde ein methodisches Problem: Sobald nicht übliche Fakten, sondern Meinungen abgefragt wurden, fachlich sprechen die Experten von Einstellungfragen, bestand die Möglichkeit, dass sich die Befragten emotional etwas vormachten. Zunächst möchte ich von Ihnen wissen, ob auch sie im Himmel kinderlos enden werden?
Auf … auf diese unverschämte Frage antworte ich nicht.
Die Frau hat gar nicht unrecht, uns zu fragen. Doch antworten möchte ich lieber auch nicht.
Ich verende nicht, niemals!
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