Donnerstag, 16. Februar 2017
Eine Bedingung (1)
Eine Bedingung von erzählender künstlerischer Literatur ist, einen Erzähler präsentieren zu können, wenigstens einen. Wäre lediglich ein Schriftsteller angebbar, jedoch kein Erzähler, könnte das relevante Werk eventuell authentisch geschrieben sein, eine erlangte Authentizität würde jedoch nicht ausreichen, um künstlerische Autonomie zu gewährleisten, nicht einmal zu ermöglichen. Authentizität würde zu Erzählendes bereits vorab stark einschränken. Eine Frage nach der ‚Echtheit‘ bezöge sich auf das Erzählte, berücksichtigte jedoch keinen Erzähler. Dies kann ein Grund sein, weshalb in authentischer Literatur Schriftsteller und Erzähler nicht selten zusammenfallen. Fehlte jedoch ein Erzähler, wäre eine sprachliche Kunst nicht möglich, lediglich ein Plaudern fast wie unter Nachbarn, sogar unabhängig von der konkreten sprachlichen Gestaltung.

Mit einem literarischen Erzähler entsteht eine Figur, die Hauptfigur eines erzählenden Werks. Der besondere Blinkwinkel und die Sprache sind relevant, nicht ein etwaiger Plot. Mit der Erschaffung einer solchen Figur entscheidet sich alles weitere, sogar die Form. An dieser Form ist leicht überprüfbar, ob die Figur dem Anspruch genügt, autonom zu erzählen, oder lediglich irgendwelchen Förmchen, bekannten Kunsthandwerks- bzw. Warenformen folgt.
Relevant wäre jedoch nicht nur, ob eine allgemeine Autonomie vorliegt, sondern auch ihre Angemessenheit. Einem künstlerischen Erzähler wäre zuzutrauen, was er betreibt. Es hat plausibel zu sein, wie er sprachlich vorgeht. Ob die Hauptfigur, der Erzähler, aus der ersten oder dritten Person heraus agiert, ist hingegen nicht entscheidend. Wechsel könnten allerdings interessant sein.

Die Frage nach Autonomie reicht aber weit über die allgemeine Formgebung des Erzählers hinaus. Sie richtet sich auch auf die behandelten Sachverhalte, ob sie primär sinnlich oder intellektuell sind. Einem Erzähler attestieren zu müssen, nicht zu wissen, eventuell nicht einmal zu ahnen, worüber er spricht, würde zwar nicht die Figur unglaubwürdig machen, menschlich wäre Unwissenheit durchaus möglich, eventuell sogar normal, aber ihre Autonomie bezweifeln lassen. Sich mit jedem literarischen Schritt entscheiden zu können, Auswahlen zu treffen, ist an Bedingungen geknüpft. Würde dem Erzähler praktisch keine Wahl bleiben, wäre er schlichtweg verloren.

Erzählende künstlerische Literatur zu verfassen, ist zentral eine intellektuelle Angelegenheit, die häufig unterschätzt wird. Ihre Bewältigung und spätere Kritik hängt letztlich vom einbringbaren intellektuellen Niveau ab. Schriftsteller zu sein, mit Schrift zu hantieren, ist heute tatsächlich relativ vielen Menschen möglich, dies jedoch in autonomer Weise zu vollbringen, ein Autor zu sein, weiterhin etwas Besonderes.

Eine Erzählerfigur ist im erzählten Geschehen integriert, sie steht nicht außerhalb. Die jeweiligen Umstände und andere Figuren üben eventuell Einflüsse aus. Die entstehende Simulation einer sozialen Konfiguration ist nur teilweise ein Resultat des Erzählers. Es ist ähnlich wie im richtigen, im wirklichen Leben. Außerhalb steht nur der Autor, der die Simulation wie ein Puppenspieler steuert und überwacht.

Die Integration der Erzählerfigur hat starke Auswirkungen auf die Sachverhalte, von denen er möglicherweise wissen und erzählen kann. Eine auktoriale, außenstehende Position einzunehmen, ist ihm nicht möglich. Sie könnte ihm erlauben, fiktional als allwissender Übervater zu fungieren. Doch obgleich funktionale Schemata über verschiedene Erzählsituationen angelegt wurden, würde ich die Wahl einer auktorialen Position ausschlagen. Sie ließe sich nicht nur mit einer angenommenen Existenz Gottes oder eines idealisierten Königs vergleichen, auch falls sich nicht mehr als eine Plaudertasche offenbart, sondern sogar mit einem als authentisch angelegten Erzähler, der primär über sich und seine literarisch gleichgültigen Eindrücke erzählt.

Zwischen einem auktorialen und einem authentischen Erzähler gibt aus historischer Sicht aber einen wichtigen Unterschied. Ein auktorialer Erzähler hat die spätesten mit der Aufklärung gesellschaftlich bemerkbare Säkularisierung noch nicht verarbeitet. Relativ viele Schriftsteller der sogenannten Moderne schrieben gleichsam im Prophetenmodus, so absurd diese Formulierung auch klingen mag. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzten sich auf relativ breiter Front erzählende Figuren durch.

Es muss nicht verwundern, dass mit der Etablierung von Erzählerfiguren viele ‚Experimente‘ entstanden, in denen literarisch getestet wurde, was man Figuren, aber auch möglichen Lesern, abverlangen kann. Die sogenannte Postmoderne entstand.
Als ein besonderes Beispiel der literarischen Postmoderne gilt „Unendlicher Spaß“ (Infinite Jest) von David Foster Wallace. In der ‚Welt‘ erläuterte Wieland Freund allgemein: „Infinite Jest“ ist eine irrlichternde Abrechnung mit der Spaßgesellschaft, überbordend, voller postmoderner Finessen, mal Zukunfts- und mal Bildungsroman, mal Satire und letztlich bodenlos traurig.“ (vgl. Freund, W., 2009). Diese Charakterisierung ist nicht am Inhalt orientiert, sondern fasst zusammen, worüber der Inhalt (der Text) des Romans erzählt. Diese Differenzierung ist aus sprachlicher Sicht unablässig und hilft, eine Distanz zu erlangen.
Konkreter geht Ulrich Greiner in der ZEIT auf die Sprache der Figuren des Romans ein: „In halb guten Romanen täuscht der Dialog lebendige Rede und Gegenrede nur vor, aber so spielt sich Kommunikation ja selten ab. Oft laufen bloß Monologe nebeneinanderher, Antworten kommen gar nicht oder verspätet.“ (vgl. Greiner, U., 2009) Es ist diesen Worten nach eine Frage der Angemessenheit - und zwar in Relation zur Wirklichkeit -, die letztlich darüber entscheiden hilft, wie der literarische Text zu beurteilen ist.
Doch was Greiner als Lob gilt, zehrt von einer alten Konzeption, die Literatur als ‚Spiegel der Gesellschaft‘ erfasst: „Ihm [dem Autor] entgeht ja nichts. Die Welt, die er uns zeigt, wirkt, als wäre sie mit zahllosen Kameras und Mikrofonen aufgenommen, widergespiegelt in zahllosen Sprachen, im Jargon der Pennäler oder Penner, der Wissenschaftler oder Manager.“ (Vgl. ebd.) Ich möchte gar nicht bestreiten, dass eine solche Vielstimmigkeit besonders emotional beeindrucken, sogar überwältigen kann, doch würde bereits eine Wendung zur gesellschaftlichen Wirklichkeit bei Lesern Ähnliches bewirken können. Eine ‚Widerspiegelung‘ brächte tatsächlich relativ wenig ein, wäre im Rahmen von angelegten gesellschaftswissenschaftlichen Studien auch zumeist belastbarer.
Der an der gesellschaftlichen Wirklichkeit gleichsam ausufernde Roman ist anstrengend zu lesen, Greiner betont, dass dem Autor aufgrund der quälenden Fülle aber zu verzeihen sei: „Und weil dieser Unendliche Spaß von einem unendlichen Ernst beherrscht ist, von einer geradezu christlichen Empathie, verzeihen wir dem Autor, dass er uns nicht selten quält mit virtuosen, nicht aufhören könnenden Schilderungen von Tennisturnieren oder aberwitzigen Kabinettssitzungen beim amerikanischen Präsidenten.“ (Vgl. ebd.) Gäbe es alternative Lösungen?

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Literatur:

Freund, W., 2009, Nach diesem Roman erhängte er sich (https://www.welt.de/kultur/article3308615/Nach-diesem-Roman-erhaengte-er-sich.html)

Greiner, U., 2009, David Foster Wallace: Der Hammer (http://www.zeit.de/2009/36/Infinite-Jest)

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